Long Covid: Wie schafft man Alltag, Schule, Liebe?
Long-Covid-Erkrankte sind jung, zwei Drittel sind Frauen, oft steht der Vorwurf einer Modekrankheit im Raum. Betroffene erzählen, wie ihr Alltag wirklich ist.
Der kleine Avatar trägt einen dunkelblonden Zopf, über seinem „Auge“, das eigentlich eine Kamera ist, teilen sich aufgemalte Stirnfransen. Er ist Fitschis Verbindung zur Schule, zu den Freundinnen und Freunden, zur Außenwelt. Der Mini-Roboter hat denselben Spitznamen, den der jüngere Bruder der Zehnjährigen verpasst hat. Fitschi 2 steht auf ihrem Platz in der Klasse, wenn sie, wie meistens, zu Hause auf der Couch liegen muss. Sie kann ihn über ein Tablet steuern und so dem Unterricht folgen.
Fitschi war sieben, als sie an Covid-19 erkrankte. Nicht immer ist die Infektion nach ein paar Wochen überstanden. Fünf bis zehn Prozent der Betroffenen leiden auch viele Wochen oder gar Monate nach Beginn der Erkrankung noch unter Symptomen. Sie reichen von chronischer Erschöpfung über Organschäden, anhaltende Atemnot bis hin zu neurologischen Symptomen und Depressionen. Viele dieser Beschwerden sind behandelbar und verschwinden nach einigen Monaten. Doch es häufen sich die Härtefälle, die chronisch krank bleiben. Post-Covid-Syndrom heißt diese extreme Form von Long Covid in der Medizin. Die Erkrankten sind jung, im Schnitt zwischen 15 und 45, zwei von drei sind weiblich. Selten sind auch Kinder wie Fitschi betroffen.
Der kleine Avatar ist Augen und Ohren für die zehnjährige Fitschi, wenn sie nicht in die Schule gehen kann.
Die Kultur- und Literaturwissenschafterin Monika Pietrzak-Franger hat für ihr eben erschienenes Buch „Scheinbar genesen“ Betroffene besucht und porträtiert. Es ist ein einfühlsames Werk geworden, das mit knalliger Hochglanzoptik Aufmerksamkeit erzeugen soll für das Tabuthema chronische Krankheit. Der Fokus liegt dabei nicht auf der Leidensgeschichte, sondern auf dem Alltag der Patientinnen und Patienten. Letztere spielten beim Entstehen des Buchs eine zentrale Rolle. „Bei den Shootings ließen Fotograf Peter Mayr und ich uns von ihren Gedanken und Wünschen leiten“, erzählt Monika Pietrzak-Franger. Fitschi, ihre Familie und die anderen Betroffenen bestimmten, was sie aus ihrem Leben zeigen wollten – und was nicht. Zu lesen sind immer nur die (zum Teil veränderten) Vornamen.
Seit etwa einem Jahr ist die Zehnjährige nicht mehr aus dem Haus gekommen.
Eine Liebesgeschichte
Dini hat Niklas durch die Krankheit kennengelernt. Sie war auf der Suche nach einem Spezialisten, bei dem Niklas bereits Patient war. Eine Bekannte stellte die beiden einander vor. Nach wenigen Treffen wurden die Wiener Lehrerin und der Student aus Oberösterreich ein Paar. Beim Fotoshooting für das Buch sitzen die beiden auf der Couch in Dinis Wohnung, in der auch Niklas wohnt, wenn er in Wien ist, und erzählen aus ihrem Alltag. Über das große Glück, einander gefunden zu haben, und von dem einzigartigen Verständnis füreinander. „Wenn es einem von uns einmal schlecht geht, weiß der andere ganz genau, wie schlecht es ihm tatsächlich geht“, sagt Niklas. Trotzdem, sagt Dini, sei es sehr schwer auszuhalten, den anderen leiden zu sehen.
Für Patientinnen wie sie gilt eine Grundregel: das sogenannte Pacing. Darunter versteht man das Erkennen der eigenen Grenzen – um mit der jeweiligen Aktivität aufhören zu können, lange bevor diese erreicht sind. Nur wer sein eigenes Tempo findet, kann Crashes, also heftige Rückfälle, vermeiden. Das gilt leider auch für freudige Ereignisse. Der 25-jährige Niklas erzählt, wie anstrengend die erste Verliebtheitsphase für ihn war: „Als wir uns das erste Mal gesehen haben, bin ich tatsächlich gecrasht. Am Anfang habe ich mich immer zu sehr gefreut, und da ist es mir dann immer sehr schlecht gegangen.“
Hier demonstriert Long-Covid-Patientin Dini in ihrer Wiener Wohnung, wie sie sich in ihren dunkelsten Stunden zum WC schleppt.
Dini stellt für die Fotos jene finsteren Tage nach, an denen sie kaum den Weg vom Schlafzimmer auf die Toilette schaffte. Fünf Stühle hatte sie quer durchs Wohnzimmer gestellt, um verschnaufen zu können, während sie sich von einem zum nächsten schleppte. Bevor sie Niklas kannte, hatte die 30-Jährige überlegt, wieder zu ihren Eltern ins Burgenland zu ziehen.
„Von den Long-Covid-Erkrankten insgesamt werden zwischen 20 und 30 Prozent nach zwei Jahren noch immer nicht gesund, vor allem jene, die unter dem ME/CFS-Typ leiden“, sagt Kathryn Hoffmann, Leiterin der Abteilung für Primary Care Medicine an der Medizinischen Universität Wien und eine der führenden Expertinnen für Long Covid. Die Myalgische Enzephalomyelitis oder das Chronische Fatigue-Syndrom ME/CFS kann infolge von Viruserkrankungen auftreten, auch nach einer Coronavirus-Infektion. Laut Schätzungen des Nationalen Referenzzentrums für postvirale Syndrome leiden mindestens 74.000 Menschen in Österreich daran. Rund 15.000 sind so schwer krank, dass sie die Wohnung oder sogar das Bett nicht verlassen können.
Woher kommt Long Covid?
Trotz umfangreicher Forschung ist noch nicht geklärt, wie es Viren wie SARS-CoV-2 schaffen, manche Menschen derart nachhaltig zu schädigen. Die Wissenschaft hat mehrere Theorien, die sich gegenseitig nicht ausschließen: etwa schlummernde Virusreste, die sich im Körper verstecken und immer wieder aufflammen. Möglicherweise provozieren diese das Immunsystem immer wieder von Neuem und lösen dabei eine überschießende Reaktion aus. Ebenfalls denkbar ist, dass die Infektion mit SARS-CoV-2 bei manchen Menschen eine Autoimmunerkrankung auslöst oder dass die Entzündungen, die die Erkrankung verursacht, bei manchen chronisch werden und ihre Organe schädigen.
Weltweit tragen Forschende gerade Puzzleteil um Puzzleteil zusammen. Im Oktober entdeckte ein Team der MedUni Wien, dass der Eiweißstoff Pentraxin 3, der normalerweise nur in der Akutphase einer Infektion vom Immunsystem ausgeschüttet wird, bei schwer Erkrankten auch zehn Monate danach noch im Blut zu finden ist. „Wir gehen davon aus, dass die erhöhten Pentraxin-3-Spiegel entweder einen immer noch ablaufenden Reparaturmechanismus im Körper anzeigen oder aber gar das Verbleiben von SARS-CoV-2-Resten im Körper selbst“, sagt Studienautor Winfried Pickl.
An manchen Tagen ist sogar das Schnurren der Katze zu laut.
Long-Covid-Patientin Dini
Die Symptome von Dini, Niklas, Fitschi und den anderen ähneln sich: völlige Erschöpfung, Schmerzen im ganzen Körper, anhaltender Schwindel, Konzentrationsstörungen. „Fitschi hat Kopfschmerzen, immer. Ihr ist oft so schwindlig, dass sie nicht gerade gehen kann oder sogar hinfällt“, erzählt ihre Mutter. An guten Tagen konnte Fitschi, die früher Kindermarathons gelaufen ist, ein paar Stunden in die Schule gehen, doch dann verschlechterte sich ihr Zustand weiter. Seit etwa einem Jahr kommt sie gar nicht mehr aus dem Haus. „Sie schafft es oft auch nicht, mit uns allen am Tisch zu sitzen“, sagt ihre Mutter Sabine. Sie hält es nicht aus, „wenn jemand redet, das Geschirr klappert und sie auch noch kauen muss“. Sabine arbeitet im Gesundheitswesen, ihr Mann Harry ist Pilot. Fitschi hat noch drei Geschwister. Im Moment ruht alle Hoffnung der Familie auf einem der wenigen Medikamente, das sie noch nicht probiert haben. „Chronische Krankheiten sind hinterhältig und flammen immer wieder auf“, sagt Monika Pietrzak-Franger. Die Kulturwissenschafterin erforscht an der Universität Wien unter anderem, wie Krankheit und Leiden historisch dargestellt wurden.
Kein Lifestyle-Leiden
Sie wurde schon bei den ersten Berichten über Long Covid hellhörig: Sie erinnerten frappant an die Zeitungsartikel und Bücher über Hysterie im 19. Jahrhundert. „Damals wie heute gibt es den Vorwurf eines Lifestyle-Leidens“, sagt Pietrzak-Franger. „Zwischen den Zeilen tönt oft die Kritik, Frauen würden aus Langeweile und Geltungssucht eine Modekrankheit erfinden.“
Als Dini sich mit ihren Symptomen 2022 von Arzt zu Ärztin schleppte, stellte man ihr immer wieder die Diagnose Depression. Ein Mediziner empfahl der damals 27-Jährigen, zwei Wochen auf Urlaub zu gehen und sich dann einen Partner zu suchen. Mit Mann und Kind würden ihre Symptome ganz von selbst verschwinden.
„Zwischen den Zeilen tönt oft die Kritik, Frauen würden eine Modekrankheit erfinden.“
Monika Pietrzak-Franger, Uni Wien
Eine Geschichte, wie sie der Wiener Neurologe Michael Stingl schon oft gehört hat. Er war einer der wenigen Ärzte, die sich schon vor Covid-19 mit ME/CFS beschäftigten. „Betroffenen wird bis heute unterstellt, sie wären faul oder würden irgendeinen Gewinn aus der Situation ziehen. Da frage ich mich: Was ist der Gewinn von jemandem, der das Haus nicht verlassen kann? Der den ganzen Tag im Dunkeln liegen muss? Für viele meiner Patientinnen und Patienten ist das Leben eine Katastrophe“, sagte Stingl kürzlich in einem Interview mit der Zeitschrift „Datum“.
Dini geht es aktuell deutlich schlechter als beim Fotoshooting für das Buch vor knapp zwei Jahren. Sie infizierte sich kurz danach auf einer Long-Covid-Reha ein zweites Mal mit SARS-CoV-2, was alle Fortschritte zunichtemachte. Heute kann sie nur noch träumen von ihrer Verfassung beim Besuch von Forscherin Pietrzak-Franger und Fotograf Mayr, der sie beim Training mit dem Hula-Hoop-Reifen abbildete. „Es gibt Tage, an denen ich überhaupt keine äußeren Reize aushalte. Ich liege dann mit meiner Migränehaube auf der Couch und kann nicht einmal aufs Handy schauen und überlege mir fünfmal, ob ich wirklich aufs Klo muss oder nicht“, wird Dini im Buch zitiert. „Manchmal ist sogar das Schnurren der Katze zu laut.“ Heute hat sie noch mehr solcher Tage.
Leben mit Long Covid und das Recht auf Hoffnung. transcript. 224 S., EUR 29,–
Trotzdem wurden alle Anträge auf Pflegegeld und andere Unterstützungsleistungen abgelehnt. Dini gilt offiziell als arbeitsfähig und arbeitssuchend, obwohl sie die Termine beim AMS nur unter großer Mühsal im Rollstuhl oder mit dem Rollator bewältigen kann. Neurologe Stingl erlebt solche Fälle häufig: „Manche Betroffene sind bettlägrig – über Tage, Wochen, Monate. Und dann wird ihnen von den Behörden attestiert, dass sie arbeitsfähig sind.“
Den Institutionen fehlt offensichtlich das Verständnis für diese chronische Krankheit. Eine Recherche von ORF, Austria Presse Agentur und „Dossier“ dokumentierte vor wenigen Monaten, wie schwer es für Betroffene ist, von der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) Pflegegeld oder eine Arbeitsunfähigkeitspension zu bekommen. Die Mehrheit der ausgewerteten Anträge wurde abgelehnt.
Auch Niklas hat eine Berg-und-Tal-Fahrt hinter sich. Wenige Monate nach den Aufnahmen für das Buch schrieb der Student seine letzte Prüfung an der Uni, danach verschlechterte sich sein Zustand rapide. Er schaffte es nicht einmal mehr mit dem Rollstuhl außer Haus. Im Frühling 2024 wurde er so reizempfindlich, dass er weder Licht noch Stimmen ertragen konnte. Er zog zu seiner Mutter, die ihn seitdem pflegt. Mit Dini konnte er nur noch ab und zu WhatsApp-Nachrichten austauschen. Mehr als einen Satz schaffte er nicht.
Seit wenigen Monaten geht es langsam aufwärts. „Sprechen kann er noch nicht, aber er kann an guten Tagen wieder Hörbücher hören“, sagt Monika Pietrzak-Franger. Und er kann Dini wieder längere Nachrichten schreiben.
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Franziska Dzugan
schreibt für das Wissenschaftsressort, ihre Schwerpunkte sind Klima, Medizin, Biodiversität, Bodenversiegelung und Crime.