„Wie kannst du es wagen“, faucht ein israelischer General Soul Tsalik entgegen. „Die Terroristen in Gaza sind gerade dabei, deine Brüder zu ermorden.“ Ende 2024 sitzt Soul – damals erst 18 Jahre alt –vor einem Militärgericht in der israelischen Stadt Ramat Gan, „in der Höhle der Bestie“, wie er es nennt, und versucht zu erklären, wieso er nicht kämpfen will. Doch der General hört nicht zu. So erzählt es Tsalik in einem Telefongespräch mit profil. „Ich sollte mich vor dem Tribunal schuldig bekennen“, sagt er. Soul ist Kriegsdienstverweigerer: „Ich will nicht für die Unterdrückung der Palästinenser kämpfen.“
Kriegsdienstverweigerung ist eines der großen Tabus in Israel. Wer öffentlichkeitswirksam verkündet, nicht kämpfen zu wollen, riskiert viel, weiß Tsalik: „Bekannte brachen den Kontakt zu mir ab, gegenüber meiner erweiterten Verwandtschaft darf ich das Thema nicht ansprechen.“ Genaue Daten, wie viele Kriegsverweigerer es in Israel gibt, sind ein gut gehütetes Geheimnis und werden nicht veröffentlicht. Doch sie werden mehr, sagt das Netzwerk Mesarvot gegenüber profil, das Kriegsdienstverweigerer rechtlich berät.
Mit einer ärztlichen Diagnose können Israelis den Kriegsdienst umgehen. Das Schlupfloch ist ganz im Sinne der Armee, die das Phänomen medial kleinhalten möchte. Die NGO Jesch Gvul geht davon aus, dass jährlich rund 20 Prozent der Israelis auf diese Weise die Wehrpflicht meiden.
Ich wollte nicht für die Unterdrückung der Palästinenser kämpfen.
Soul Tsalik
Kriegsdienstverweigerer
Doch unter Israels Reservisten ist Kriegsdienstverweigerung bröckelt das Tabu: Anders als frische Rekruten wie Soul ruft Israels Armee ihre Reservetruppen, die ihren Wehrdienst bereits abgeleistet haben, um Personallücken zu schließen. Doch laut Angaben des Verteidigungsministeriums aus dem März erscheinen mittlerweile 20 Prozent der Reservisten, die mehr als die Hälfte der Truppenstärke stellen, nicht mehr zum Dienst. Israels öffentlich-rechtlicher Rundfunk KAN berichtet sogar von einer Abwesenheitsquote von 40 Prozent. Für die Regierung im kriegsmüden Israel werden Menschen wie Soul zunehmend zum Problem.
Desillusioniert
Auch Ron Feiner möchte nicht mehr kämpfen. Der 26-jährige Reservist aus Haifa war im Libanon stationiert, räumte dort Hisbollah-Waffenlager und bekam selbst einen Streifschuss ab. „Sechs Freunde in meinem Bataillon starben im Kampf, mindestens 15 wurden verwundet“, erzählt er. Doch zwei Jahre an „endlosen Krieg“ haben ihn desillusioniert. Im Libanon wurde er Zeuge, wie israelische Soldaten wahllos Häuser in Brand setzten oder in die Luft sprengten. Als ihn sein Kommandant für einen vierten Einsatz verpflichten wollte, sagte Ron Feiner nein.
Der Reservist Ron Feiner war seit dem 7. Oktober 270 Tage an der Front.
Er ist damit einer von 100.000 Reservisten, die sich nicht mehr bei ihren Vorgesetzten melden. „Als ich 2018 in die Armee eintrat, wollte ich Leben retten. Doch dieser Krieg heute zerstört jede Chance auf eine Zukunft“, sagt Feiner. Er argumentiert, der Krieg heute würde auf Kosten von palästinensischen Zivilisten und der im Gazastreifen festgehaltenen israelischen Geiseln geführt werden und diene nur noch dem Machterhalt von Israels Premier Benjamin Netanjahu, dem US-Präsident Donald Trump am Montag einen Friedensplan unterbreiten möchte.
Als ich 2018 in die Armee eintrat, wollte ich Leben retten. Doch dieser Krieg heute zerstört jede Chance auf eine Zukunft.
Ron Feiner
ehemaliger Reservist in Israels Militär
Israels Wehrdienst ist ab 18 Jahren verpflichtend: Alle jüdischen Israelis sowie Angehörige der drusischen und tscherkessischen Minderheiten müssen dienen. Seit 2024 werden auch Ultraorthodoxe verpflichtet, die zuvor einen Sonderstatus hatten. Von der Wehrpflicht ausgenommen sind nur Israels arabische Staatsbürger, die sich oft als Palästinenser identifizieren und rund ein Fünftel der Bevölkerung ausmachen. Wer als Mann 32 Monate und als Frau 24 Monate Wehrpflicht absolviert hat, kann als Reservist jederzeit wieder mobilisiert werden.
Anders als Feiner verweigern viele Reservisten nicht aus ideologischen Gründen, sondern aus Erschöpfung: Ehe und Beziehungen sind am Krieg in Gaza zerbrochen. Laut einer Umfrage des israelischen Arbeitsamtes verloren 40 Prozent der Reservisten ihren Job.
Doch eigentlich würde Israels Führung gerade jetzt neue Reservisten benötigen. Im August kündigte Netanjahu noch eine groß angelegte Bodenoffensive an, um Gaza-Stadt einzunehmen. Aktuell dringen israelische Panzer in die größte Stadt des Gazastreifens vor.
Palästinenser fliehen vor der israelischen Offensive aus Gaza-Stadt Richtung Süden.
Die Armee forderte im August die Einberufung von 60.000 Reservisten an, während sie den aktiven Reservedienst von 20.000 Israelis verlängerte. Der Mangel an Personal, das nachrücken könnte, führt teilweise zu bizarren Szenen: Anwerber der Armee suchen in privaten Chatgruppen oder mittels Online-Stellenanzeigen nach neuen Reservisten, wie die israelische Zeitung „Haaretz“ berichtet. Dabei schrauben sie die Anforderungen nach unten: „Grundsätzlich gilt das Angebot nur für Soldaten mit dem Militärrang 07 und höher, aber wir können versuchen, auch Leute mit einem niedrigeren Rang hineinzubekommen“, zitiert "Haaretz" einen Armeeangehörigen.
Soul landet schließlich in einer Baracke aus Wellblech, einem „industriellen Hühnerstall“, wie er es beschreibt. Hier verbringt er die kommenden Wochen. Es ist ein Gefängniscamp. Am Tag heizt sich das Zelt auf, in der Nacht fallen die Temperaturen auf knapp über Null. „Wir hatten keine Klimaanlage“, erzählt Soul. Wenn es regnet, tropft Wasser von der Decke. Die Duschen muss er mit rund hundert anderen Insassen teilen.
Kriegsdienstverweigerer werden in Militärgefängnissen, wie hier im südlich von Haifa gelegenen Atlit, eingesperrt.
Wer den Militärdienst verweigert, muss für einige Wochen ins Militärgefängnis. Das Prozedere ist zermürbend, wie es Verweigerer gegenüber profil beschreiben: Wer seine Strafe abgesessen hat, kann jederzeit einen neuen Einberufungsbescheid bekommen, muss erneut vor einem Militärgericht erscheinen und landet wieder hinter Gittern.
Als Ella Keidar Greenberg nach der ersten Nacht aufwacht, ist sie geschockt. Um sie herum kalte Gefängniswände, sie befindet sich in Einzelhaft. Der Grund: Ella ist eine der ersten Transfrauen, die den Militärdienst verweigern. Als solche muss sie laut Armeevorschrift getrennt von den anderen Insassinnen in einem Frauengefängnis einsitzen, offiziell zum eigenen Schutz.
„Ich durfte manchmal in einem dunklen Innenhof spazieren gehen“, sagt Ella, die ihre Einzelhaft als „Folter“ beschreibt. Andere Insassen hätte sie nur kurz bei Mahlzeiten gesehen. 30 Tage soll sie ab Mitte März einsitzen. Nach 23 Tagen kommt sie frei. Doch sie bereut ihre Entscheidung nicht, wie sie erzählt: „Ich wollte mich nicht am Genozid in Gaza beteiligen.“
Ich wollte mich nicht am Genozid in Gaza beteiligen.
Ella Keidar Greenberg
Kriegsdienstverweigerin
Doch Israels Armeeführung fährt zunehmend härtere Strafen gegen „Refuseniks“ auf, wie Kriegsdienstverweigerer in Israel genannt werden: Zwei Israelis, Itamar Greenberg und Tal Mitnick, saßen fast 200 Tage ein. Dabei gab es noch vor dem Gaza-Krieg die ungeschriebene Regel, dass Verweigerer nicht länger als 120 Tage in Haft bleiben sollen.
Gebrandmarkt
Souls Zellengenossen sind Soldaten, die wegen anderen Delikten einsitzen: „Rekruten, die auf der Wache eingeschlafen oder angetrunken waren oder ihre Vorgesetzten verarscht haben“, wie er sagt, die aber in Gaza gekämpft hätten. Um die Zeit totzuschlagen, diskutiert der 18-Jährige mit den anderen und riskiert bei Streitgesprächen ein blaues Auge. „Man dachte dort, ich wäre ein irrer Linksradikaler“, erzählt Soul „einmal wurde ich gefragt, ob ich die Hamas unterstütze.“ Sonst liest Soul wie verrückt. Er zählt die Autoren auf, von denen er Bücher gelesen hat: „Charles Dickens, Isaac Asimov, Christopher Hitchens“ – und die US-Verfassung.
Das Erste, was ich gemacht habe, als ich freikam, war Falafel zu essen.
Soul Tsalik
Kriegsdienstverweigerer
Ende Februar wird Soul entlassen. „Das Erste, was ich gemacht habe, als ich freikam, war Falafel zu essen“, erzählt er. Zuhause legt er sich auf den Boden, atmet erstmal durch. Er muss nicht zurück ins Gefängnis. Ella erinnert sich, kettenrauchend auf ihre Mutter gewartet zu haben, die sie im Mai vom Gefängnis abholte: „Ich habe danach zwei Tage durchgeschlafen.“
Ella Keidar Greenberg engagiert sich auch auf Demos für ein Ende des Gaza-Krieges.
Zivildienst gibt es in Israel nicht. Doch wer Kontakte hat, kann leicht in Rollen schlüpfen, in denen nicht gekämpft werden muss, sei es als Koch, Musiker oder Informatiker. Für viele Israelis ist der Militärdienst ein verbindende Erfahrung – und er ist so etwas wie ein Motor für die eigene Karriere. Hier knüpfen Rekruten Kontakte oder nehmen an Workshops teil, wo sie lernen, den besten Lebenslauf zu schreiben. Israels IT-Firmen suchen gezielt nach ehemaligen Rekruten der prestigeträchtigen Aufklärungsabteilungen.
Der Militärdienst schweißt zusammen. Wer nicht dabei war, gilt schnell als Außenseiter und muss Nachteile im Berufsleben fürchten. Etwas, das Soul aus erster Hand kennt, wie er erzählt: „Bei einem Bewerbungsgespräch wurde mir gesagt, dass nur ‚stolze Zionisten, die den Krieg unterstützen, hier arbeiten dürfen.‘ Dann sollte ich gehen“, erzählt er „Jeder kann jetzt meinen Namen googlen.“ Zwei Bewerbungsgespräche seien bereits so abgelaufen, sagt er. Jetzt überlegt der 19-Jährige, an die Uni zu gehen, Filmwissenschaften oder Philosophie zu studieren.
Der Krieg in Gaza droht zunehmend Israels Gesellschaft zu spalten – manche Israelis wollen nicht mitkämpfen bei einer Schlacht, die sie als unrecht empfinden.
seit Juli 2025 im Außenpolitik-Ressort. Davor freier Journalist für APA, Kurier und die deutsche Nahostfachzeitschrift zenith. Schwerpunkt Nahost / Kaukasus / Osteuropa.