Porträtfoto von Yagil Levy. Es zeigt einen lächelnden Mann in schwarzen Shirt mit Brille.
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Warum verweigern nur wenige Israelis den Militärdienst, Herr Levy?

Soziologe Yagil Levy erzählt, welcher tiefer Spalt sich durch Israels Armee zieht und wie der Gaza-Krieg den Korpsgeist verändert hat.

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Mehr als 60.000 Palästinenser wurden in Gaza getötet, währenddessen starben 2.000 Israelis. Warum sind die Opferzahlen unter den Palästinenser so viel höher?

Yagil Levy

Das Verhältnis zwischen israelischen und palästinensischen Toten war noch nie so unproportional wie heute. Es gibt im Krieg ein klassisches Dilemma: Wessen Leben ist mehr wert? Das der feindlichen Zivilisten, die man laut Völkerrecht schützen muss, oder das der eigenen Soldaten? Wenn beispielsweise ein Terrorist und vier Familien in einem Haus leben, stellt sich die Frage: Schicke ich ein Spezialkommando, um den Terroristen zu eliminieren und die Zivilisten zu schonen? Oder bombardiere ich das Haus, um keine toten Soldaten zu riskieren, töte aber womöglich unschuldige Zivilisten? Rund 500 israelische Soldaten starben bei den Kämpfen in Gaza. Israel hat dieses Dilemma gelöst, indem es das Risiko für seine eigenen Soldaten minimiert und beispiellose Kollateralschäden unter der Zivilbevölkerung in Kauf nimmt.

Zur Person

Yagil Levy, 67, arbeitet als Professor für Politische Soziologie und Public Policy an der „Open University of Israel“ in Ra'anana. Er forscht zur Beziehung zwischen Militär und Zivilgesellschaft. Von 1976 bis 1988 diente er im israelischen Militär und erreichte den Rang eines Oberstleutnants.

Warum?

Levy

Die israelische Öffentlichkeit reagiert sehr, sehr empfindlich auf Opferzahlen in den eigenen Reihen. Die Protestbewegung „Vier Mütter“ verlangte zum Beispiel ab 1997, dass keine israelischen Soldaten mehr im Libanon sterben dürfen. Israel musste sich im Jahr 2000 aus dem Südlibanon zurückziehen. Seitdem wissen israelische Regierungen, dass sie nur eine beschränkte Zahl an Soldaten opfern können. Hinzu kommt, dass innerhalb der israelischen Streitkräfte Menschen aus anderen gesellschaftlichen Schichten sterben als früher.

Mehrere Frauen stehen mit hebräisch-sprachigen Protestschildern da. Auf einem liest man auf Englisch: "Get out of Lebanon"
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"Vier Mütter" verlangten von 1997 bis 2000 einen Abzug israelischer Truppen aus dem Südlibanon.

Inwiefern?

Levy

Im Jom-Kippurkrieg von 1973 oder dem ersten Libanonkrieg 1982 kämpfte und starb die säkulare Mittelschicht für Israel. Doch ihr Anteil im Militär nahm immer mehr ab. Religiöse Soldaten und Soldaten aus den unteren Schichten tragen heute im Gaza-Krieg die Hauptlast. Israels Mittelschicht, die man dem Mitte-Links-Lager zurechnen kann, hat als einzige Gruppe die Macht, die Ressourcen und die ideologische Motivation, um große Proteste zu organisieren, sollte der Krieg zu viele Opfer fordern. Das ist einer der Gründe, warum es lange Zeit kaum Protest gegen den Krieg gab.

Wie stark hat sich Israels Militär verändert?

Levy

Etwa seit den 1980-er Jahren gab es einen großen Wandel in den Streitkräften, viele besonders religiöse Menschen und Personen aus den unteren Gesellschaftsschichten schlossen sich den Bodentruppen an: Das waren etwa Mizrachim (aus arabischen Ländern eingewanderte Juden, Anm.), Einwanderer aus dem sowjetischen Raum sowie zu einem geringeren Teil aus Äthiopien, während der Anteil der säkularen Mittelschicht zurückgegangen ist. Das hat die Motivation der Bodentruppen zu aggressiverem Verhalten erhöht.

Jeder Israeli muss nach wie vor Militärdienst leisten. Wie passt das zusammen?

Levy

Die Wehrpflicht wurde selektiver: Rekruten können sich aussuchen, in welcher Sparte sie dienen wollen. Hinzu kommt, dass der Technologiesektor und auch die Nachrichtendienste, wie etwa die Einheit 8200 (Einheit zur elektronischen Aufklärung der israelischen Streitkräfte, Anm.), enorm gewachsen sind. Der Technologiesektor bot bestimmte Vorteile und Leistungen an und zog damit besonders Personen aus der Mittelschicht an. Während gerade die Bodentruppen weniger attraktiv sind, weil sie mit einem höheren Risiko verbunden sind und weniger Vorteile bieten. Das Militär ist in diese zwei Gruppen geteilt. Manche sprechen sogar von zwei unterschiedlichen Armeen: Das Hi-Tech-Militär und die Bodenkräfte.

Also stehen besonders die Bodentruppen der Regierung von Premier Benjamin Netanjahu und dessen Likud-Partei nahe?

Levy

Die Infanterie- und Panzereinheiten in Gaza sind eng mit dem rechten Lager verbunden: Sei es die Likud Netanjahus die Partei (des rechtsextremen Ministers für öffentliche Sicherheit, Anm.) Itamar Ben-Gvir oder die Nationalreligiöse Partei von Finanzminister Bezalel Smotrich. Am deutlichsten wurde die Spaltung in zwei Lager im Jahr 2023 bei den Protesten gegen Netanjahus geplante Justizreform, die besonders von Piloten, Reservisten und Israelis aus dem Technologiesektor des Militärs unterstützt wurden.

Ein Mann wirft etwas in eine Box, daneben unterschreibt ein anderer Mann ein Banner. Dahinter mehrere Israel-Flaggen
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Reservisten, wie hier im Juli 2023, protestierten gegen eine geplante Justizreform Netanjahus, indem sie drohten ihren Reservedienst nicht mehr zu leisten.

Teile dieser rechten Parteien gelten als extremistisch und hetzen gegen Palästinenser. Erhöht der Einfluss ultrarechter Kräfte auf die Bodentruppen die Gefahr für Kriegsverbrechen in Gaza?

Levy

Ja. Der Korpsgeist hat sich verändert. Die Bodeneinheiten verhalten sich heute mehr wie Milizen. Sie posieren in den Sozialen Medien in ausgebrannten Häusern oder beim Plündern. Das ist beispielslos. Früher meldeten Soldaten, die eher dem Mitte-Links-Lager nahestanden, illegales oder inakzeptables Verhalten. Israels Anführer haben das Motiv der Rache in die Armee getragen. Rache als Motivation war früher ein Tabu in Israels Militär. Israels Armee verstand sich als Institution, die verteidigt, auch, wenn es manchmal trotzdem zu Racheakten kam.

Warum verweigern nur relativ wenige Israelis den Militärdienst?

Levy

Gerade nach den Gräueltaten des 7. Oktober war eine Verweigerung des Wehrdienstes tabuisiert. Dennoch steigt die Zahl der Personen, die sich weigern, zu kämpfen. Das Militär will nicht, dass man sieht, dass Verweigerer die Armeeführung herausfordern. Kommandeure verhandeln daher oft informell, um Bedenken aus dem Weg zu räumen.

Raphael  Bossniak

Raphael Bossniak

seit Juli 2025 im Außenpolitik-Ressort. Davor freier Journalist für APA, Kurier und die deutsche Nahostfachzeitschrift zenith. Schwerpunkt Nahost / Kaukasus / Osteuropa.