Musik dröhnt aus tragbaren Lautsprechern. „Die Tränen für die Märtyrer der Revolution waren nicht umsonst“, übersetzt der Syrer Ahmat den arabischen Liedtext. Vor der syrischen Botschaft in der Nähe des Schwarzenbergplatzes in Wien feiern Ende November rund 50 Syrer den Sturz der Diktatur Baschar Assads vor einem Jahr. „In Syrien haben sie dieses Lied bei jeder Demonstration gespielt“, sagt Ahmat. 2011 demonstrierte er gemeinsam mit Millionen Syrern gegen das Regime – er war damals 17 Jahre alt.
Autos hupen. Die Menge klatscht, die Demonstrierenden fangen an zu tanzen. Die Stimmung ist ausgelassen. „Ich sah in den sozialen Medien, dass Baschar nach Russland geflohen ist“, erinnert sich Abdullah, der in der Menge tanzt, an den 8. Dezember 2024. „Ich habe geweint. Es war wie das Ende eines Alptraums.“ Und Ali aus der Stadt Homs erzählt, wie Truppen des Regimes ein Krankenhaus bombardiert und dabei seine beiden kleinen Mädchen getötet haben: „Assad ist ein Krimineller.“
Ich habe geweint. Es war wie das Ende eines Alptraums.
Abdullah
Syrer
„Assad oder wir brennen das Land nieder“, war einst der Schlachtruf von seinen Anhängern. Es war nicht rhetorisch gemeint. Als 2011 Massenproteste das Mittelmeerland erschütterten, schoss das Regime auf die Demonstranten. Das Inferno eines 14-jährigen Bürgerkrieges kostete mehr als eine halbe Million Menschen das Leben, jeder vierte Syrer flüchtete aus dem Land, rund 100.000 kamen nach Österreich. Vergangenes Jahr starteten islamistische Rebellen eine Überraschungsoffensive. Ausgehöhlt durch jahrelange Korruption und tiefsitzende Unzufriedenheit der Bevölkerung zerbröselte Assads Armee förmlich. Am 8. Dezember fiel Damaskus, Assad setzte sich nach Moskau ab.
Der Bürgerkrieg ist zu Ende, doch das Land ist zersplittert. Der neue Staatschef Ahmed Scharaa, der sich heute als moderat präsentiert, befehligte einst das islamistische Bündnis „Komitee zur Befreiung der Levante“ (HTS). Heute sucht Scharaa, der auf Terrorlisten der USA und des UN-Sicherheitsrates stand, die Nähe zu Washington. Ist er wirklich geläutert? Unter den Minderheiten Syriens herrscht Angst. Wie lebt es sich im neuen Syrien? Und ist ein Ende der Gewalt in Sicht?
„Bist du Alawit?“
Yazan verlässt seine Wohnung so gut wie nie. Der 29-Jährige aus der Küstenstadt Latakia ist Alawit, er gehört zur gleichen religiösen Minderheit, aus der auch Assad stammt. „Sie erkennen uns Alawiten an unseren Bärten, unseren Nachnamen oder unserem Dialekt“, sagt Yazan im Telefonat mit profil. Bei Checkpoints fällt dann die Frage, vor der sich Angehörige der Minderheit am meisten fürchten: „Bist du Alawit?“
Wir sind wie Freiwild, wir können am helllichten Tag umgebracht werden.
Yazan
Alawit aus Latakia
Die meisten antworteten wahrheitsgemäß, sagt Yazan: „Es ist sinnlos, zu lügen, wir können uns nicht verstecken.“ Was danach passiert, hängt von den Soldaten am Checkpoint ab. Manchmal wird zugeschlagen und erniedrigt – Alawiten werden gezwungen, wie Hunde zu bellen. Im schlimmsten Fall fallen Schüsse. „Wir sind wie Freiwild, wir können am helllichten Tag umgebracht werden“, erzählt Yazan.
Regierungstruppen patrouillieren durch Latakia; in der Region kam es zu einem kurzlebigen Aufstand von Assad-Loyalisten.
Spätestens seit März herrscht ein Klima der Angst in den Küstengebieten Syriens, wo die meisten Alawiten leben: Kämpfer auf Pickups mit einer Kalaschnikow unter dem Arm tauchen in alawitischen Dörfern auf. Es fällt die gefürchtete Frage: „Bist du Alawit?“ Bei Massakern und Schussgefechten wurden laut den Vereinten Nationen rund 1400 Menschen getötet, die meisten Zivilisten. Vorausgegangen waren Angriffe von Assad-Loyalisten, bei denen 200 Soldaten der Übergangsregierung starben.
In Yazans Heimatortschaft, einem ländlichen Dorf in der Küstenregion, wurden 41 Menschen ermordet, elf weitere gelten als vermisst.
Scharaa versprach, jeden, der sich am „Blutvergießen an Zivilisten“ beteiligt hatte, zur Rechenschaft zu ziehen. Doch einem von der Übergangsregierung eingesetzten Untersuchungskomitee vertraut keiner der Alawiten, mit denen profil sprechen konnte. Recherchen der Nachrichtenagentur Reuters deckten auf, dass sich auch Verbände der Übergangsregierung, darunter Soldaten von Scharaas HTS-Milizen, an der Gewalt beteiligt hatten.
Für Islamisten gelten die Alawiten, die rund zehn Prozent der Bevölkerung Syriens ausmachen und als Ableger des schiitischen Islam gelten, als „vom Glauben Abgefallene“. Doch ihre Rolle als einstige Machtbasis des Diktators wiegt noch schwerer. Assads Machtclique rekrutierte unter den Alawiten Soldaten für die Armee und Agenten der für ihre Brutalität berüchtigten Geheimdienste. Generäle und hohe Politiker waren oft Alawiten. „Für Assad waren wir Kanonenfutter“, sagt Yazan „darum hat er uns auch arm gehalten: Wir sollten seine Sklaven bleiben.“ Alawiten stehen heute unter Generalverdacht, Assad-Anhänger zu sein. Die Gewalt an ihnen ist noch nicht versiegt.
Von der Terrorliste ins Weiße Haus
Es ist ein bedeutsamer Handschlag, den US-Präsident Donald Trump Syriens Präsidenten Scharaa Mitte November im Oval Office gibt. Scharaa lächelt jovial: Die USA hatten ihn nur Tage davor von der Terrorliste gestrichen. Scharaas al-Nusra-Front hatte einst gute Beziehungen zur al-Kaida, die USA hatten ein Kopfgeld in der Höhe von zehn Millionen Dollar auf ihn ausgesetzt.
Heute trägt Scharaa Anzug und gibt sich als Technokrat. Doch es ist ein Drahtseilakt: Sein harter Kern an Gefolgsleuten, die heute in Syriens Ministerien sitzen, sind islamistische Waffenbrüder, darunter auch Dschihadisten aus China, Zentralasien und Tschetschenien. Der Westen fordert einen modernen Partner, um Sanktionen aufzuheben. Im Mai wurden die meisten US- und EU-Sanktionen entweder signifikant gelockert oder ganz aufgehoben.
Der Wiederaufbau hat begonnen, doch er geht nur schleppend voran.
Mohamad
Syrischer Landwirt
Denn Scharaa, der freie Wahlen innerhalb der nächsten vier Jahren verspricht, muss versuchen, das Land wieder aufzubauen. Die Weltbank errechnete, dass mindestens 185 Milliarden Euro nötig seien, um Syrien wieder auf die Beine zu stellen.
Rund 140.000 Gebäude wurden im Bürgerkrieg zerstört, die Wirtschaft ist am Boden. Der Syrer Mohamad, mit dem profil über WhatsApp in Verbindung steht, geht noch immer an zerbombten Häusern vorbei, wenn er durch Ghuta spaziert, einem Vorort von Damaskus. „Der Wiederaufbau hat begonnen, doch er geht nur schleppend voran“, sagt der Landwirt, der einst nach Österreich flüchtete, jetzt jedoch zurückgekehrt ist.Langsam gebe es wieder mehr Jobs.
„In den Vorstädten von Damaskus ist noch viel zerstört“, sagt auch Yamen, der im zehn Kilometer von Damaskus entfernten Dscharamana lebt.
In Damaskus herrsche mittlerweile eine Stimmung, die ihm Unbehagen bereite, sagt Yamen gegenüber profil. Er ist Angehöriger der religiösen Minderheit der Drusen. „Jeden Tag werden Drusen medial dämonisiert oder uns wird vorgeworfen, mit Israel zu kooperieren“, sagt der Grafikdesigner.
Yamen kommt ursprünglich aus jenem Ort, der zum Hotspot des Konflikts nach dem Sturz des Assad-Regimes geworden ist: das südliche Suweida.
Mit dem Rücken zur Wand
„Lauft! Sie sind wieder da …“, hallt es durch Suweidas Straßen. Schüsse knallen. Hamsa Abu Hasson flieht im Juli in einem überfüllten Auto, zwölf Personen drängen sich in einem Fünfsitzer. „Menschen – ich kannte sie nicht – sprinteten auf uns zu, um irgendwie fliehen zu können“, sagt die Drusin gegenüber profil. Sie berichtet, auf ihrer Flucht geköpfte Leichen gesehen zu haben.
Wer im Juli zuerst geschossen hat – drusische Milizen, die Suweida schon vor Ende des Bürgerkrieges kontrollierten, oder Soldaten der Übergangsregierung –, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren, sagt Tobias Lang vom Austrian Center for Peace, der sich mit den Minderheiten in Syrien, insbesondere den Drusen, beschäftigt: „Es ist allerdings gesichert, dass es zu massiven Gräueltaten an drusischen Zivilisten kam.“ Die NGO Syrian Observatory for Human Rights geht von 1120 Toten aus.
Der Geruch von Blut und verwesenden Leichen war unerträglich; ich habe diesen Geruch noch in der Nase.
Hamsa Abu Hasson
Drusin in Suweida
Hasson berichtet von ihrem älteren Nachbarn aus dem ersten Stock, den Kämpfer an einen Sessel gefesselt und angezündet hatten. Die Drusin, die sonst mit einem 13-köpfigen Team Hilfslieferungen verteilt, erinnert sich daran, während der Kämpfe Hunderte Leichen in dem Garten eines Krankenhauses gesehen zu haben. Sie war gekommen, um getötete Verwandte zu identifizieren. „Der Geruch von Blut und verwesenden Leichen war unerträglich; ich habe diesen Geruch noch in der Nase. Es war ein Alptraum, alle weinten und schrien“, sagt die Syrerin.
Hamsa Abu Hasson hilft in einem kleinen Team von 13 Personen beim Verteilen von Hilfslieferungen.
Spannungen zwischen Drusen und Beduinen, die schon lange um Acker- und Weideflächen konkurrieren, waren in Suweida hochgekocht. Regierungsstreitkräfte sollten die Situation befrieden, doch sie schlugen sich auf die Seite der sunnitischen Beduinen.
Die heiße Phase des Konflikts endete schließlich mit israelischen Bomben.
16. Juli. Ein israelischer Luftschlag trifft das Gelände des Präsidentenpalasts in Damaskus. Rauch steigt auf. Eine Warnung, sagt Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Israels Drusen, Stammwähler von Netanjahus rechtskonservativer Likud-Partei, hatten Tel Aviv zum Eingreifen gedrängt.
Viel Überzeugung brauchte es nicht: Seit Assads Sturz ist Israel tief in eine von der UN kontrollierte demilitarisierte Zone zwischen dem Golan und dem restlichen Syrien vorgedrungen. Es ist eine Pufferzone für eine Pufferzone: Israel besetzt seit 1967 völkerrechtswidrig die Golanhöhen, ein strategisch wertvolles Plateau mit guter Sicht auf Damaskus. Tel Aviv sieht Syriens Übergangsregierung als potenzielle Bedrohung:Damaskus sollen die Zähne gezogen werden.
Israel beschädigte das syrische Verteidigungsministerium schwer.
Israelische Luftschläge töteten Ende November im nahe der Pufferzone gelegenen Dorf Beit Jinn 13 Menschen, darunter zwei Kinder. Viele Syrer reagierten mit Wut. Bei Feierlichkeiten zum Ende des Assad-Regimes hörte man vermehrt anti-israelische Slogans.
Drusenführer Sheikh Hikmat Hijri ist sehr machtbewusst, und man sagt, dass er nicht gerade kompromissbereit ist
Tobias Lang
Drusen-Experte
In Suweida ist nun mit Sheikh Hikmat Hijri, der offensichtlich über gute Kontakte nach Israel verfügt, ein Hardliner der tonangebende Mann: Er fordert die Abspaltung Suweidas von Syrien. „Er ist sehr machtbewusst, und man sagt, dass er nicht gerade kompromissbereit ist“, sagt Drusen-Experte Lang. Ende November verhafteten Hijris Kräfte zwei rivalisierende drusische Anführer, denen Kontakte nach Damaskus vorgeworfen wurden. Sie starben die Tage darauf unter unklaren Umständen.
Im Süden Syriens, dessen Demilitarisierung Netanjahu fordert, brodelt es.
Verhandeln, verhandeln
Der 71-jährige Riad Darar hat den Aufstieg und Fall Assads erlebt, er saß in Gefängnissen des Regimes und im Exil in Ägypten. Heute ist er Berater des Präsidialkomitees des Demokratischen Rates Syriens (SDC), dem politischen Arm der von den Kurden angeführten SDF-Milizen. Im SDC sitzen rund 40 Parteien. Kekse liegen auf einem Tisch, im Hintergrund kocht Tee. profil trifft Darar in seinem Büro in Wien. Die SDF führen zähe Verhandlungen mit Damaskus über eine Eingliederung des kurdischen Nordostens Syriens. Darar steckt die roten Linien ab: „Wir wollen unsere Waffen nicht abgeben – wir haben gesehen, was mit den Drusen und Alawiten passiert ist.“
Streitpunkt ist das Militär. „Wir fordern, dass die SDF in drei Divisionen des syrischen Militärs aufgeht, die dann aber weiterhin in Nordostsyrien stationiert bleiben“, sagt Darar. Rund 70.000 Leute dienen in den SDF-Streitkräften, 20 Prozent sollen Frauen sein. „Wir leben nicht in Angst“, sagt Emîne Osê von der in Nordostsyrien einflussreichen Frauenrechtsorganisation Kongra Star und ehemalige Ko-Vorsitzende des SDC gegenüber profil, „unsere Verhandler werden bei diesem Thema keine Kompromisse eingehen. Unsere Kämpferinnen bleiben Teil des Militärs.“
Wir wollen unsere Waffen nicht abgeben – wir haben gesehen, was mit den Drusen und Alawiten passiert ist.
Riad Darar
Berater des SDC-Präsidialkomitees
Doch die SDF, die aus einem fragilen Bündnis aus Kurden, anderen Minderheiten (besonders Christen) und Arabern besteht, steht intern unter Druck: Araber stellen im SDF-Gebiet die Mehrheit der Bevölkerung, viele wollen wieder Teil der Zentralregierung sein. „Arabische Stämme in der Region wollen ihre Loyalität gegenüber Damaskus beweisen“, sagt Darar, selbst Araber aus Deir ez-Zor, „darum kommt es auch vereinzelt noch zu Angriffen.“ Für Scharaa geht es nicht nur darum, das Land zu einen, sondern auch um die ertragreichen Erdölfelder im Nordosten, die den Wiederaufbau finanzieren sollen.
Die Hauptforderung der SDF: Föderalismus. Man will weiterhin Autonomie für die Gebiete im Nordosten – was Scharaa wiederholt abgelehnt hatte.
Aktuell liegen die Verhandlungen auf Eis.
Trotz der Spannungen herrscht in den Kurdengebieten Aufbruchstimmung. Es gibt neue Cafés, Buchgeschäfte, Hotels – sogar ein Filmfestival. Die Wirtschaft kommt langsam in die Gänge. Die Region fühlt sich sicherer und lebendiger an, man ist stolz auf das, was man geschafft hat, berichten Personen vor Ort. Ein Jahr nach dem Ende des Regimes atmen hier die Menschen etwas auf.
ist seit Juli 2025 im Außenpolitik-Ressort. Davor freier Journalist für APA, Kurier und die deutsche Nahostfachzeitschrift zenith. Schwerpunkt Nahost / Kaukasus / Osteuropa.