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Interview

„Ich fühle mich selber ein bisschen schuld“

Paul Lendvai verrät, welche Leute er verachtet, von welcher Politikerin er viel hält, und wie oft er sich schon geirrt hat.

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Herr Lendvai, Sie sind seit mehr als einem halben Jahrhundert journalistisch tätig und veröffentlichen eben ihr 19. Buch. Wie oft haben Sie sich in Ihrer langen Karriere geirrt?
Paul Lendvai
Immer wieder. Ich glaubte zum Beispiel nicht, dass die Sowjetunion die DDR jemals friedlich ziehen lassen würde. Auch Wladimir Putin und den Einfluss des KGB habe ich anfangs schwer unterschätzt. Ich halte es mit dem Philosophen Soren Kierkegaard: „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“
Wir bitten Sie dennoch um Ihre Einschätzungen: Ungarn steht kurz davor, dass die EU dem Land wegen seiner Verfehlungen gegen die Rechtsstaatlichkeit einen Gutteil der Subventionen entzieht. Wird das Regierungschef Viktor Orbán schwächen?
Lendvai
Einerseits wird die Sperre der EU-Gelder die sozialen Gegensätze in Ungarn weiter verschärfen, und das wird die Menschen treffen. Es ist einer der paradoxen Aspekte, dass die ärmsten Leute, die Verlierer, Orban unterstützen. Sie hören und sehen nur Nachrichten, die vom Regime gesteuert werden. Unabhängige Medien gibt es kaum noch. Aber es wird auch für das Regime schwieriger. Sie haben bisher immense Summen von der EU bekommen, vier bis fünf Prozent des BIP, und davon einen unglaublichen Anteil gestohlen und unter ihre Leute verteilt. Die aktuelle ungarische Regierung ist die korrupteste, die das Land je hatte. Da wird ein Installateur aus der innersten Clique innerhalb weniger Jahre zum Euro-Milliardär. Oder: Was besitzt Orban offiziell? – die Hälfte einer Wohnung in Budapest! Aber abschreiben würde ich Orban nicht. Er ist sehr gerissen, er hat die Opposition zerschlagen.
Wird Ungarn in fünf Jahren noch Mitglied der EU sein wird?
Lendvai
Das kann ich nicht einmal für ein Jahr prognostizieren. Vielleicht aber wird gerade die aktuelle Weltkrise ein positiver Schub für Europa. Die ungarische Bevölkerung ist überwiegend für die EU.
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In ihrem neuen Buch „Vielgeprüftes Österreich“ spielt Orbán indirekt eine Rolle. Sie waren mit ÖVP-Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel fast so etwas wie befreundet - bis er 2010 den Kontakt zu Ihnen sehr reduzierte, nachdem Sie ein Buch über Orbán veröffentlicht hatten. Wie erklären Sie sich Schüssels Reaktion?
Lendvai
Mein Buch „Mein verspieltes Land – Ungarn im Umbruch“ erschien im Herbst 2010. In Ungarn wurde daraufhin eine konzertierte Kampagne gegen mich eingeleitet. Ich wurde als heimlicher Mitarbeiter des früheren kommunistischen Regimes verleumdet. Es war unglaublich. Das Verhältnis zu Schüssel hat sich immer mehr abgekühlt.
Aber warum? Woher kommt bei einer bürgerlichen Partei wie der ÖVP eine solche Orbán-Freundlichkeit?
Lendvai
Ich denke, das geht auf das Jahr 2000 zurück – einem Krisenjahr für Österreich und die damalige schwarz-blaue Regierung unter Kanzler Schüssel. Ich habe damals die Regierung verteidigt, und zwar nicht, weil ich eine ÖVP/FPÖ-Regierung für richtig hielt, sondern weil ich diese europäische Heuchelei nicht ertragen konnte, dass in Italien ein Silvio Berlusconi fuhrwerken konnte, Österreich jedoch als ein nazistisches Paradies hingestellt wurde. Schüssel war damals als Bundeskanzler in Europa komplett isoliert, aber Orban hat ihn eingeladen, als Einziger. Das hat ihm Schüssel nie vergessen. Wie tief diese Erfahrung ging, das wusste ich nicht. Schüssels weitere Entwicklung hat mich doch sehr verblüfft.
Was genau meinen Sie?
Lendvai
Dass er die Position beim russischen Mineralölkonzern Lukoil angenommen hat; Und dass es so lange gedauert hat, bis er den Job zurücklegte. Noch länger als bei SPÖ-Ex-Kanzler Christian Kern, der sein Aufsichtsratsmandat bei der russischen Staatsbahn RZD kurz nach Kriegsbeginn beendete. Ein so intelligenter Mann wie Schüssel! Ach, schauen Sie. Ich habe sehr viele Freunde unter den alten Konservativen. Ich war merkwürdigerweise aber auch mit Kreisky sehr befreundet. Ich bin nirgendwo Mitglied, außer beim ÖAMTC. Wenn man so alt ist wie ich und so viel erlebt hat, dann vergisst man nicht die Leute, die anständig waren und sind.
Sie haben für Ihr Buch mehrere Dutzend Hintergrundgespräche geführt, und das Ergebnis ist die Analyse eines Niedergangs der politischen Klasse. War es früher wirklich besser?
Lendvai
Heute ist alles sichtbar. Die Kommunikation spielt heute im politischen Geschäft eine große Rolle. Stellen Sie sich die Nachkriegspolitiker Leopold Figl oder Alfons Gorbach im Fernsehen vor wie sie Witze reißen. Das geht nicht. Ich habe so viele gekannt. Der Untergang der Politik betrifft nicht nur Österreich. Aber es schmerzt mich eben, dass es auch in Österreich so ist. Denken Sie an die neuesten Enthüllungen: Mit ingesamt 300 Millionen Euro beeinflusste der Kreml seit 2014 Wahlen im Ausland. Politiker und Parteien. Sie wurden nicht nur belobigt, sondern auch bezahlt. Anstand zählt immer weniger in der Politik.
Können Sie auch Hoffnungsträger ausmachen? Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron vielleicht?
Lendvai
Ich habe viel von ihm gehalten. Aber er hat auch Dummheiten gesagt, wie etwa die NATO sei „hirntot“. Aber Gott soll ihn behüten. Ein weiblicher Macron würde Österreich schon vorwärts bringen, von NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger halte ich viel. Insgesamt jedoch sehe ich einen Niedergang. Politiker lesen heute nichts mehr. Selbst Zeitungen „lassen“ sie lesen.  Mit wenigen Ausnahmen: der Hannes Androsch, der liest noch. Der steckt den ganzen SPÖ-Vorstand in die Tasche.
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Wie haben Sie das Phänomen Sebastian Kurz erlebt?
Lendvai
Einmal habe ich länger mit ihm gesprochen. Kennengelernt habe ich ihn beim Europa-Forum in der Wachau, wo ich immer ---moderierte und die Gäste vorstellt habe. Ich war dort 25 Jahre Master of the Ceremonies, und er hat sich die Einführung verbeten.
Wie erklären Sie sich seinen zeitweilig großen Erfolg?
Lendvai
Es war wohl eine Mischung aus Begabung, der Situation in der ÖVP und dem Wirken dieser verschworenen Gruppe, die mit ihm den Durchmarsch organisiert hat. Außerdem ist er ein Charmeur. Doch für wen arbeitet er heute? Für Peter Thiel, einen der übelsten Milliardäre, der Ex-US-Präsident Donald Trump unterstützt! (Anm.: Kurz ist „Global Strategist“ bei Thiels Unternehmen „Thiel Capital“.) Das, was er konnte, war, wie der Schriftsteller Thomas Stangl sagte: „Ein Spiel mit dem Nichts“.
Den bürgerlichen Intellektuellen Friedrich Heer, den Sie noch persönlich kannten, zitieren Sie mit den von ihm definierten „österreichischen Nationallastern: Neid, uneigennützige Gemeinheit und gepflegte Charakterlosigkeit“. Ist das noch immer so?
Lendvai
Schauen Sie sich die ÖVP an und die eben zurückgetretene junge Generalsekretärin (Laura Sachslehner, Anm.), die den Asylwerbern den 500-Euro-Klimabonus wegnehmen will und das mit Leistungsdenken rechtfertigt! Da war auch einmal ein Generalsekretär der FPÖ, dessen Familie ihren tschechischen Namen eindeutschen ließ (Peter Westenthaler, Anm.); Und da ist ein junger FPÖ-Politiker (Udo Landbauer, Anm.) mit iranischer Mutter, der einer Burschenschaft vorsaß, die den Judenmord lustig besang, und der heute wieder im Kommen ist. Laura Sachslehner hat eine polnische Mutter und ist zweisprachig aufgewachsen. Ich frage mich: Wird da etwas kompensiert?

Paul Lendvai: Vielgeprüftes Österreich

Verlag ecoWin - 320S., EUR 27,-

Kommen wir zur Weltpolitik. Der Kriegsverlauf in der Ukraine scheint sich gewendet zu haben. Die russische Armee ist gezwungen, aus bereits eroberten Territorien zurückzuweichen. Hat es sie überrascht, wie geeint der Westen bisher war?
Lendvai
Ja, aber ich habe natürlich Angst, ob diese Einigkeit weiter anhalten wird. Es prasseln so viele Probleme gleichzeitig auf Europa ein. Sehr viel hängt von den Medien an, auch vom Ausgang der amerikanischen Kongress-Wahlen im November. Zudem haben einige Linke in Europa eine große, tiefverwurzelte Schwäche: Sie verwechseln Russland mit der Linken. Dabei hat Putins Regime nur ein Ziel: an der Macht zu bleiben. Ja, ich hoffe, die Einheit bleibt, trotz der Querschüsse von Orban. Die Rückeroberung von Gebieten seitens der Ukraine ist ein Naturwunder. Die Ukraine war lange Zeit eine vernachlässigte und verleumdete Nation. Bei den Holocaust-Überlebenden war immer die üble Rolle, die Ukrainer gespielt haben, ein Thema. Aber da gab es eben solche und solche, wie in jeder Gesellschaft. Es gibt kein Land, das unschuldig ist. Jetzt hat die Ukraine einen jüdischen Staatsmann, der sie durch den Krieg führt.
Kann die Ukraine den Krieg gewinnen?
Lendvai
Ich glaube nicht, dass sie es können, aber wir können nichts voraussagen. Ich verachte all diese Leute, die in offenen Briefen von ihren wohlbehüteten und komfortablen Sitzen aus die Ukraine einfach abschreiben und zur Kapitulation auffordern. Ich fühle mich selber ein bisschen Schuld, dass ich das, was mit der Ukraine seit der Orangen Revolution 2004 passiert, nicht gesehen habe. Der Krieg nimmt eine historische Wende, aber wir wissen nicht, wie es endet. Vielleicht gelingt ein annehmbarer Friedensvertrag.
Was lehrt Sie die Erfahrung im Alter von 93 Jahren?
Lendvai
Leider ist nichts unmöglich.
Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur

Christa   Zöchling

Christa Zöchling

war bis 2023 in der profil-Innenpolitik