Rechtspopulist Farage im Höhenflug: Mr. Brexit will Mr. Britain werden
 
          
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Nigel Farage betritt die Bühne wie ein Rockstar. Eine dunkle Silhouette vor gleißendem Licht, dramatische Musik und Nebelschwaden, dann tritt der 61-Jährige vor und begrüßt das Publikum. Beats und Pyrotechnik, die Menge jubelt. „Wir sind auf dem Weg zur nächsten Parlamentswahl!“, ruft Englands erfolgreichster Rechtspopulist. „Niemand ist entschlossener als ich!“
Es ist Anfang September, und am Parteitag von Reform UK ist die Stimmung besonders ausgelassen. Das liegt auch daran, dass Vizepremierministerin Angela Rayner soeben ihren Rücktritt bekannt gegeben hat. Deshalb tritt Farage früher auf als geplant. Und deshalb fällt es ihm an diesem Tag noch leichter, die Labour-Regierung als einen Haufen nutzloser Idioten darzustellen: „Sie sind nicht fähig, dieses Land zu regieren!“ Die Sozialdemokraten, so der Reform-Chef, stünden vor einem „Bürgerkrieg“, der linke Flügel befinde sich kurz vor der Abspaltung. Das Land sei am Ende, und nur er allein könne es auf den rechten Weg bringen.
 
            
                    Nigel Farage ist im Höhenflug.
© AFP/APA/AFP/PAUL ELLIS
Nigel Farage ist im Höhenflug.
In Umfragen liegt seine Reform-Partei mittlerweile bei bis zu 30 Prozent. Die einst so mächtigen Tories stehen am Rande der Bedeutungslosigkeit, und die Beliebtheitswerte der regierenden Labour-Partei sind kollabiert. Bei den Wahlen im Juli vergangenen Jahres erreichten sie mehr als 37 Prozent der Stimmen, heute liegen sie bei 21 Prozent. Es ist das schlechteste Ergebnis einer Regierungspartei seit Beginn der Umfragen im Jahr 1983. Und Labour-Chef Keir Starmer ist der unbeliebteste Premier aller Zeiten.
Im kommenden Mai finden Regionalwahlen in England sowie die Wahlen zum schottischen Parlament statt. Bis dahin muss Starmer seine Partei und das Land in den Griff bekommen, sonst droht die nächste Niederlage gegen Farage.
Wie konnte es so weit kommen?
Mit einem Erdrutschsieg beendete Labour im vergangenen Juli 14 Jahre Tory-Regierung. Großbritanniens Konservative waren, wenn man so will, an ihren eigenen Erfolgen gescheitert. Der wirtschaftsschädliche Brexit, die chaotische Amtszeit des Politclowns Boris Johnson, zerstörerische Sparpolitik und geheime Corona-Partys: In kaum einem Land tritt der Schaden durch die Politik einer weit nach rechts gerückten konservativen Partei dermaßen offen zutage wie in Großbritannien.
Eine Mehrheit der Menschen hält den EU-Austritt mittlerweile für einen Fehler. Geschätzte vier Prozent an Wirtschaftswachstum kostet der Brexit Großbritannien mittelfristig, die irreguläre Migration ist hingegen gewachsen. Die Verzweiflung über die Lage des Landes spülte Labour an die Macht und verhalf Starmer zu einer absoluten Mehrheit im Unterhaus. Kurz entstand der Eindruck, der Spuk sei vorbei und die Briten hätten aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Doch dann verkündete Nigel Farage sein Comeback.
Allianz mit Boulevardmedien
Bei den Wahlen vor einem Jahr gelang Farage der Einzug ins Unterhaus, seither war er vergleichsweise selten in Westminster, aber umso präsenter in den Medien. Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte war Farage sieben Mal am Einzug ins Parlament gescheitert, das Land prägte er dennoch maßgeblich mit.
Schon als Schüler in einem Londoner Elitecollege übt er sich in der Kunst der Debatte. Als Teenager wird er Mitglied bei den Tories, verlässt die Partei aber 1992, nachdem Premier John Major das Maastricht-Abkommen unterzeichnet, mit dem die Europäische Gemeinschaft (EG) zur Europäischen Union wird. Im Jahr 1993 ist Farage Mitgründer der UK Independence Party, kurz UKIP, von der sich 2019 die Brexit Party abspaltet. Heute heißt die Partei Reform UK, doch Farages Botschaft ist seit jeher dieselbe: Großbritannien steht wirtschaftlich und moralisch vor dem Abgrund, und nur er kann das Land retten. Mit diesem Rezept führte er vor dem Brexit-Referendum im Jahr 2016 das Lager der Austrittsbefürworter an, trieb die Tories vor sich her und heizte mit einer Mischung aus rassistischer Hetze und Desinformation die Stimmung im Land an. Die Tories gaben nach, und bald klangen sie wie er.
Doch Farage verfügte damals wie heute über einen entscheidenden Vorteil: Er kann behaupten, keinerlei politische Verantwortung zu tragen.
Nach dem Brexit Anfang 2020 hat Farage sein Ziel erreicht, doch das genügt ihm nicht. Im folgenden Frühling fährt er auf einem Fischerboot auf den Ärmelkanal hinaus und blickt suchend über das Wasser. Bald tauchen die ersten Schlauchboote mit Flüchtlingen auf, und Farage hat gefunden, wonach er gesucht hat. Er beobachtet, wie die französische Marine das überfüllte Boot Richtung England manövriert und schließlich an die britische Küstenwache übergibt. „Sie drohen uns, sie sagen, wir dürfen das nicht filmen“, sagt Farage. „Herr Innenminister, unternehmen Sie etwas!“
Wir sind auf dem Weg zur nächsten Parlamentswahl! Niemand ist entschlossener als ich!
Nigel Farage, UK Reform
Das Video geht viral – und Farage hat eine neue Waffe gegen die Tories in der Hand. Täglich kritisiert er die Regierung dafür, zu wenig gegen illegale Migration zu unternehmen. GB News, so etwas wie die britische Variante des rechten US-Senders Fox News, belohnt Farage mit einer eigenen Talkshow, die Einschaltquoten gehen durch die Decke. Der Druck auf die Tories steigt, und die Flügelkämpfe drohen, die Partei zu zerreißen.
Lange Zeit maß sich Nigel Farages Erfolg an dem Schaden, den er den Tories zufügte. Jetzt liegt die Partei in Trümmern, und das alte Spiel geht von vorn los, diesmal gegen Labour.
In Allianz mit Englands mächtigen Boulevardmedien fährt Farage eine Kampagne gegen die Regierung. Glaubt man den Schlagzeilen von Blättern wie der „Daily Mail“, ist das Land am Ende. Von einer „Invasion“ ist da regelmäßig die Rede, von einer Flut an Migranten und dem Ende der Meinungsfreiheit in Großbritannien.
Die Stimmung im Land kippt, Britinnen und Briten mit Migrationshintergrund berichten von einer Zunahme an rassistischen Übergriffen. Viele fühlen sich an die Zeit der gewalttätigen rechtsradikalen Ausschreitungen in den 1980er- und 1990er-Jahren erinnert.
Gegen Migration und die „autoritäre Linke“
Die nächsten Parlamentswahlen stehen frühestens 2028 an, doch das hält Nigel Farage nicht davon ab, mit Volldampf Wahlkampf zu betreiben. Die Labour-Regierung („Starmergeddon“) betrachtet er bereits nach einem Jahr im Amt als gescheitert, die Kriminalität im Land als ausufernd, der „Invasion“ von Migranten will er durch die Abschiebung Hunderttausender entgegenwirken.
In einem hat Farage recht: Die Zahl der Einwanderer ist tatsächlich rasant gestiegen, von rund 330.000 im Jahr 2015 auf mehr als 760.000 im Jahr 2023. Verantwortlich ist dafür allerdings nicht Keir Starmer, sondern der Brexit, den Farage so leidenschaftlich vorantrieb. Mit dem EU-Austritt verließen osteuropäische Fachkräfte wie Krankenschwestern und Handwerker Großbritannien und mussten durch andere ersetzt werden. Mithilfe eines hastig zusammengestellten Visaprogramms lockte der damalige Premier Boris Johnson Menschen aus den ehemaligen Kolonien des Commonwealth an. Es kamen mehr als erwartet, und viele entsprachen nicht den erwünschten Kriterien.
Starmer hat die Nettozuwanderung auf rund 400.000 Menschen im Jahr halbiert. Doch die Zahl der Asylsuchenden steigt.
Die Bilder von den „small boats“, von kleinen, überfüllten Booten, mit denen Migranten illegal ins Land kommen, sind längst zum Symbol für den Kontrollverlust des Staates über seine Grenzen geworden. Rund 37.000 Menschen gelangten im vergangenen Jahr unkontrolliert von Frankreich über den Ärmelkanal nach Großbritannien, und heuer waren es bis Ende September mehr als 33.000. Vor Kurzem hat Keir Starmer mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ein Rückführabkommen vereinbart, doch bisher wurden gerade einmal 42 illegale Migranten zurückgebracht.
Futter für Farage, der sich als Ritter im Kampf gegen illegale Einwanderung gibt und Migranten für alle Übel des Landes verantwortlich macht.
Farage verspricht, die Boote innerhalb von zwei Wochen zu stoppen und 600.000 Migranten abzuschieben. Möglich wäre das durch ein „Gesetz für Massendeportationen“, das mit internationalem Recht brechen soll. Die Klimaschutzziele will er beseitigen, damit Energie billig ist und Großbritannien „reindustrialisiert“ werden kann. Farages Behauptungen und Forderungen halten keinem Faktencheck stand, doch das stört ihn nicht. Seine Slogans verfangen.
Die Einwanderung von unqualifizierten Menschen mit schlechten Englischkenntnissen hat zu sozialen Spannungen und Ängsten in der einheimischen Bevölkerung geführt.
Aus einer Analyse des Meinungsforschungsinstituts Electoral Calculus
Reform UK lebt von der Opposition zu den etablierten Parteien. Nach Jahren der Krise ist das Vertrauen in die Regierung dahin, und viele Menschen haben das Gefühl, dass die Politik ihre Probleme nicht angeht: stagnierende Wirtschaft, Einwanderung und Asyl, das marode Gesundheitssystem National Health Service (NHS).
Die Einwanderung von unqualifizierten Menschen mit schlechten Englischkenntnissen habe zu sozialen Spannungen und Ängsten in der einheimischen Bevölkerung geführt, analysiert das Meinungsforschungsinstitut Electoral Calculus. Billigarbeitskräfte drückten die Löhne der Arbeiterschicht, und weder den Tories noch Labour sei es gelungen, eine Antwort auf diese Probleme zu finden. Immerhin 27 Prozent der Befragten glauben daran, dass die Reform-Partei es besser machen würde. Ähnliches gilt für das NHS, das seit vielen Jahren in der Krise steckt.
Als Problemfeld sieht das Institut auch die „autoritäre Linke“, deren Vorstellungen bei den etablierten Parteien und in akademischen Kreisen Anklang gefunden hätten: „Die einzige Gruppe, die nicht ganz überzeugt zu sein scheint, sind die Wähler.“ Konkret geht es dabei etwa um die Rechte von Transpersonen. „Während die Öffentlichkeit Transpersonen im Allgemeinen unterstützt und Verständnis für sie aufbringt, forderte die Linke viel mehr: medizinische Behandlung für Kinder, Schwächung der Frauenrechte, Pronomen und Sprachpolizei.“ Das sei ein gefundenes Fressen für Reform UK, denn die beiden großen Parteien scheuten sich, die Meinung der Bevölkerung widerzuspiegeln.
Farage hingegen verspricht seinen Anhängern die geistig-kulturelle Wende: ein Ende des linken Zeitgeistes, die Rückkehr zum „common sense“.
Dem ehemaligen „Mr. Brexit“ ist es gelungen, sich als Mann des Volkes zu verkaufen. Der Sohn eines Börsenmaklers ist bekannt für seinen ausgefallenen Kleidungsstil und lässt sich seit jeher von einem Chauffeur herumkutschieren. Doch seine Medientermine absolviert er am liebsten im Pub. Farage raucht und trinkt, er wirkt ungezwungen, kann über sich selbst lachen – und er hört den Menschen zu. Farage ist so etwas wie ein Schnösel mit Street-Credibility. Dafür liebt ihn nicht nur die Boulevardpresse.
„Großbritannien ist kaputt“, titelte die „Sun“ im April dieses Jahres den Wahlkampfslogan der Reform-Partei, und Farage hielt das Blatt während einer Rede im englischen Durham in die Kameras. Im Sommer gab der Rechtspopulist jede Woche eine Pressekonferenz – und die Medien berichteten ausführlich. Seine Wutreden sind schlagzeilentauglich, Farage ist unterhaltsam, und er schreckt vor nichts zurück, wie er beim Verzehr einer mit Tierpenissen belegten Pizza im Reality-TV unter Beweis stellte.
„Make Britain Great Again!“
Der rechte Boulevard, ehemals Sprachrohr der Tories, ist zum Komplizen Farages geworden. Und in den sozialen Medien ist er erfolgreicher als jeder andere britische Politiker. Allein auf X folgen ihm mehr als 2,2 Millionen Accounts. Dort mobilisiert auch Großbritanniens radikale Rechte gegen die Regierung.
Schlagend wurde dies Mitte September, als der rechtsextreme Aktivist Tommy Robinson, der selbst Farage zu radikal ist, mit Unterstützung des Tech-Milliardärs Elon Musk zum „Festival der Meinungsfreiheit“ in London aufrief. Rund 150.000 Menschen protestierten im Zentrum der Stadt lautstark gegen Migration, es war die größte nationalistische Demonstration seit Jahrzehnten.
Musk war über Video zugeschaltet, als Robinson von einem „Vergewaltigungsdschihad“ sprach, gegen den die „Töchter des Landes“ verteidigt werden müssten. „Die Gewalt kommt“, warnte Musk, „leistet Widerstand, oder ihr werdet sterben.“
So weit will Farage nicht gehen, immerhin gilt es, den Mainstream zu erobern. Beim Parteitag in Birmingham spricht er über den Aufstieg seiner Partei und darüber, wie er Großbritannien wieder groß machen wird. „Make Britain Great Again!“, lautet die Parole, Ziel ist ein Sieg bei den nächsten Unterhauswahlen. Das Publikum schwört er auf den Kampf ein, die Botschaft am Parteitag: Disziplin.
Zuletzt machte es den Eindruck, als hätte Farage seine Partei nicht ganz im Griff. Mindestens 15 seiner Leute flogen allein in den vergangenen vier Monaten aus der Partei, gegen einige wird polizeilich ermittelt. Zu ihnen gehört ein Lokalpolitiker, der im Internet erklärt hatte, Starmer am liebsten persönlich erschießen zu wollen. Will sich Farage im Mainstream halten, muss er allzu radikale Parteimitglieder loswerden.
Dann können wohl auch die Tories mit ihm. Bereits vor den Wahlen forderten einige Konservative die Zusammenarbeit mit Reform. Seit dem Erfolg der Partei bei den Kommunalwahlen im vergangenen Mai sind Dutzende konservative Lokalpolitiker zu Reform übergelaufen. Eine Umfrage unter Tory-Parteimitgliedern hat ergeben, dass sich fast zwei Drittel ein Bündnis mit Reform UK wünschen, die Hälfte spricht sich sogar für eine Zusammenlegung der Parteien aus. Farage hat beides bisher kategorisch ausgeschlossen.
Will er wirklich regieren, muss er wohl früher oder später mit den Konservativen zumindest zusammenarbeiten. Nimmt man die aktuellen Umfragen als Maßstab, wird Farage einen Koalitionspartner brauchen – und die Tories sind nach jetzigem Stand die Einzigen, die dafür infrage kommen. Inhaltlich sollte das kein Problem sein, Großbritanniens Konservative sind weit nach rechts gerückt. Durchaus möglich, dass sie Nigel Farage zur Macht verhelfen. Er wäre der erste Premierminister seit mehr als 100 Jahren, der keiner der beiden Großparteien angehört.
 
          
                Siobhán Geets
ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort und seit 2025 stellvertretende Ressortleiterin. Schwerpunkt: Europa und USA.
 
                     
            
                     
          
                        
                                             
          
                        
                                             
            
                     
            
                     
          
                        
                                             
          
                        
                                            