In Gaza (und Israel) feierten Menschen spontan auf der Straße.
Zwei Mal sind vereinbarte Waffenruhen schon gescheitert. Sind Sie besorgt, dass sich das wiederholen könnte?
Farhat-Naser
Ich habe Angst, dass zwar die Geiseln freigelassen werden – was notwendig ist –, aber der Krieg weitergeht wie bisher. Doch der internationale Druck sowie jener innerhalb Israels auf Netanjahu ist so stark gewachsen, dass er nur schwer vom aktuellen Kurs abschwenken kann. Währenddessen geht es der Hamas darum, möglichst viele palästinensische Gefangene freizubekommen.
Zur Person
Sumaya Farhat-Naser, 77, lehrt an palästinensischen Schulen Friedenserziehung und lebt in Birzeit im Westjordanland. Von 1997 bis 2001 leitete sie die Nichtregierungsorganisation „Jerusalem Center for Women“. Die Palästinenserin aus christlicher Familie schrieb mehrere Bücher über den Konflikt. Sie ist für eine Vortragsreihe in Österreich.
Warum ist das für die Hamas wichtig?
Farhat-Naser
Die Hamas versucht, ihr Gesicht zu wahren, nachdem sie sich mit ihrem Angriff am 7. Oktober verkalkuliert hat. Für uns Palästinenser ist die Gefangenenfrage wichtig, weil 14.000 politische Gefangene, viele davon in Administrativhaft ohne Anklage, in Israels Gefängnissen sitzen. Erst letzte Woche kamen Professoren, Kollegen von mir, frei. Ich erkannte sie nicht wieder: Sie hatten in anderthalb Jahren im Gefängnis 20 Kilo abgenommen. Aber für die Hamas wäre vor allem die Freilassung von Marwan Barghouti (Politiker der im Westjordanland regierenden Fatah, Anm.) und Ahmad Sa’adat, Parteivorsitzender der PFLP (die militante, linksnationalistische Volksfront für die Befreiung Palästinas, Anm.), eine große Errungenschaft.
Marwan Barghouti gilt als potenzieller Hoffnungsträger für einen palästinensischen Staat. Doch Israel möchte ihn nicht freilassen …
Farhat-Naser
Dabei könnte Barghouti alles auffangen. Er ist beliebt, nicht korrupt und war ein hoher Politiker. Er weiß zu verhandeln, auch mit der Hamas, und könnte die Sorgen der Bevölkerung beruhigen. Ich habe ihn selbst einst in Biologie unterrichtet. Er hat schon damals politische Reden geschwungen.
Marwan Barghouti (hier bei seinem Prozess, 2003) gilt in Palästina als Hoffnungsträger, viele Israelis sehen ihn als Terroristen.
Ein israelisches Gericht verurteilte Barghouti zu fünfmal lebenslänglich, weil er Terroranschläge, die fünf Israelis getötet haben, geplant haben soll.
Farhat-Naser
Er sitzt seit 23 Jahren im Gefängnis. Barghouti wurde verurteilt in seiner Kapazität als Vorsitzender der Fatah-Jugendbewegung. Er hat nie jemanden getötet. Er hat sich immer gegen Gewalt an Zivilisten ausgesprochen, er hat im Untergrund mit israelischen Politikern verhandelt und die Friedensgespräche zwischen Israel und Jassir Arafat (ehemaliger palästinensischer Präsident und einflussreicher Fatah-Chef, Anm.) vorbereitet. Er ist immer für Versöhnung aufgetreten.
Was soll mit der Hamas passieren, nachdem ein Friedensdeal in Gaza zustande gekommen ist? Israel pocht darauf, dass sie zerschlagen werden muss.
Farhat-Naser
Die Hamas ist nicht das palästinensische Volk. Die hohen Köpfe der Hamas sitzen sowieso schon im Ausland, vielleicht verlassen noch weitere 100 bis 200 hohe Funktionäre im Zuge von Verhandlungen das Land. Aber was soll Israel mit den Tausenden einfachen Kämpfern in Gaza machen? Sie alle töten, einsperren oder abschieben? Das ist doch unmöglich. Wir brauchen eine Amnestie.
Wird die Hamas noch eine Rolle in Gaza spielen? Wer wird Gaza regieren?
Farhat-Naser
Ich halte es für eine Schande, dass Trump die PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation, Dachorganisation der palästinensischen Parteien, Anm.) – immerhin der international anerkannte Repräsentant der Palästinenser – von einer Regierung im Gazastreifen ausschließt. Die Hamas wird auch nicht einfach komplett verschwinden. Sie wird von Ministerposten ausgeschlossen werden, aber es muss eine inoffizielle Zusammenarbeit geben, schon allein, um die Hamas zu beschwichtigen. Die Hamas wird erst aufhören zu existieren, wenn eine neue Ära beginnt und die Besatzung Palästinas endet.
Die Hamas-Führungsriege, wie hier Hauptverhandler Khalil al-Hayya (mitte), werden nicht nach Gaza zurückkehren dürfen.
Sie denken nicht, dass die Hamas militärisch besiegt werden kann?
Farhat-Naser
Nein, auf keinen Fall. Die Hamas ist eine Idee. Solange Unterdrückung da ist, zieht es Menschen aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit hin zur Gewalt. Ich bespreche das mit auch mit Jugendlichen im Westjordanland, wenn ich Schulen besuche.
Von Robert Treichler,
Siobhán Geets und
Franziska Tschinderle
Was erzählen die Jugendlichen? Fühlen sie sich zu bewaffneten Gruppen hingezogen?
Farhat-Naser
Manche sagen: „Die Hamas kämpft für uns, die Hamas will uns befreien.“ „Aber schaut euch deren Methoden an“, erwidere ich dann. Andere versuchen auch, religiöse Gewalt zu rechtfertigen. Das lasse ich nicht stehen. „Wer hat gesagt, du darfst töten“, antworte ich darauf.
Wie blickt man heute in Palästina auf die Brutalität des 7. Oktober?
Farhat-Naser
Was am 7. Oktober 2023 geschehen ist, ist ein Verbrechen. Niemals kann und darf es verschwiegen werden. Die Hamas hatte sich da aber auch verkalkuliert: Sie dachte, der Angriff würde Israel zu Verhandlungen zwingen. Doch beide Seiten agierten so viel brutaler als erwartet. Aber was man in Palästina verneint, sind die Erzählungen, Hamas-Kämpfer hätten massenhaft Frauen vergewaltigt oder Kinder geköpft. Das stimmt nicht.
Was am 7. Oktober 2023 geschehen ist, ist ein Verbrechen.
Sumaya Farhat-Naser
Friedensaktivistin
Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und das UN-Büro der Sonderbeauftragten für sexuelle Gewalt dokumentierten sexuelle Übergriffe am 7. Oktober.
Farhat-Naser
Es mag zu einzelnen Vorfällen gekommen sein. Ich hoffe, es ist in dieser Masse nicht geschehen.
Sie haben früher Dialog-Workshops geleitet, bei denen Palästinenser und Israelis zusammengekommen sind. Ist das heute noch denkbar?
Farhat-Naser
Beide Zentren, die diesen Dialog damals getragen haben, das israelische „Bat Shalom“ und das palästinensische „Jerusalem Center for Women“, existieren heute nicht mehr. Wir konnten wegen Sperren und Verboten schlicht nicht mehr nach Jerusalem fahren. Die Enttäuschung, dass unser Land immer mehr vom Frieden wegdriftet, hat den Rest getan. Wir hatten das Gefühl, dass es keinen Zweck mehr hat.
Von 1997 bis 2001 leitete Farhat-Naser die Nichtregierungsorganisation „Jerusalem Center for Women“.
Wie geht es Ihren israelischen Partnern von damals?
Farhat-Naser
Sie wurden immer verdächtigt und beobachtet, weil sie mit den „Feinden“ sprachen. Viele haben den Mut verloren. Sie sind aus Israel weggezogen: nach San Francisco, Los Angeles, Wien oder in die Schweiz, Kenia oder Südafrika.
Gibt es noch Partner in Israel, um einen Frieden aufzubauen?
Farhat-Naser
Ich sehe keinen neuen Nachwuchs, der sich für Frieden einsetzt. Natürlich gibt es in Israel noch Gruppen, die für Frieden kämpfen und weiter mit Palästinensern arbeiten. Es gibt sie noch: die mutigen, wunderbaren Israelis. Aber sie fordern aktuell in erster Linie die Freigabe der Geiseln, erst vor ein paar Wochen wurden Parolen laut, die ein Ende des Krieges forderten.
Sie sehen das kritisch?
Farhat-Naser
Natürlich leiden Israelis auch unter dem Krieg – wenn auch die Menschen in Gaza tausendmal mehr leiden. Wir Palästinenser haben uns gewundert, warum es so lange gedauert hat, bis sich mehr Israelis gegen den Krieg stellen. Die Bilder vom Leid in Gaza, die hier in Österreich ausgestrahlt werden, finden im israelischen Fernsehen nicht statt. Die Mehrheit hat nicht die Kraft, sich damit zu konfrontieren.
Sie klingen pessimistisch. Glauben Sie noch an die Zweistaatenlösung?
Farhat-Naser
Sie ist nicht komplett gescheitert, aber nicht mehr viele glauben daran. Es gibt in Israel keine Scheu oder Scham mehr. Minister entmenschlichen uns Palästinenser öffentlich und fordern unsere Vertreibung, was von einer Mehrheit der Israelis unterstützt wird.
Hat Europa genug für die Zweistaatenlösung getan?
Farhat-Naser
Auf keinen Fall. Es ist nicht nur zu spät, sondern sie haben versagt, sie haben geschwiegen und sie haben zugelassen, dass die Zweistaatenlösung scheitert. Es ist längst an der Zeit, dass europäische Staaten Palästina als Staat anerkennen. Es ist traurig und unverantwortlich, dass Österreich diesen Schritt noch nicht gesetzt hat. Ich finde es furchtbar.
Es ist längst an der Zeit, dass europäische Staaten Palästina als Staat anerkennen.
Sumaya Farhat-Naser
Friedensaktivistin
Sie leben in Birzeit im Westjordanland. Wie ist die Situation in Ihrer Heimatstadt?
Farhat-Naser
In der Nacht hören wir Schüsse. Soldaten kommen und gehen. Jugendliche werfen Steine. Israel will 22 neue Siedlungen bauen. Eine von diesen Siedlungen ist nur eineinhalb Kilometer von meinem Haus entfernt. Die Siedler vertreiben die Beduinen. Sie sind unsere Hauptproduzenten von Milch und Fleisch. Die militanten Siedler, die sich „Jugend der Hügel“ nennen, stehlen Esel und Schafe, gehen einkaufen mit geschultertem Gewehr, um einzuschüchtern, verscheuchen mit Schüssen die Bauern, die ihre Oliven ernten wollen, und stehlen die Ernte. Das israelische Militär schützt sie dabei.
Israelische Razzien gehören im Westjordanland zum Alltag: Mehr als 900 Palästinenser starben hier seit Beginn des Gaza-Krieges.
Wie sieht in so einer Situation der Alltag aus?
Farhat-Naser
„Mama, bist du gut angekommen?“, lese ich oft. Freunde und Familie schreiben einander jedes Mal, wenn Angehörige unterwegs sind und sicher angelangt sind. Mein Sohn – er arbeitet als Neurologe und hat in Innsbruck studiert – wurde bereits zweimal von Siedlern angeschossen. Sie konnten ihn anhand des Nummernschildes seines Autos als Palästinenser identifizieren.
Mein Sohn – er arbeitet als Neurologe und hat in Innsbruck studiert – wurde bereits zweimal von Siedlern angeschossen.
Sumaya Farhat-Naser
Friedensaktivistin
Wie ernst ist die Lage im Westjordanland?
Farhat-Naser
Israel hat die die Flüchtlingslager im Norden, wie Dschenin, Tulkarm, Kalkilia, systematisch zerstört. Es sieht dort aus wie in Gaza. Wir haben überall Sperren und Checkpoints. Wir dürfen uns in unserer Heimat nicht bewegen. Israel ist dabei, sich das Westjordanland einzuverleiben. Bereits 80 Prozent der Westbank ist uns von Israel geraubt worden.
Interview: Raphael Bossniak Fotos: Wolfgang Paterno
seit Juli 2025 im Außenpolitik-Ressort. Davor freier Journalist für APA, Kurier und die deutsche Nahostfachzeitschrift zenith. Schwerpunkt Nahost / Kaukasus / Osteuropa.