Die Erleichterung ist riesig. Israel und die Hamas haben sich geeinigt, die Geiseln kommen nach Hause, die Waffen schweigen. Es ist die erste Phase von US-Präsident Donald Trumps Friedensplan für Gaza. Wird es auch eine zweite Phase geben?
Zuletzt hatte der Krieg fast nur noch Gegner. Die Angehörigen der israelischen Geiseln trieb die unbeschreibliche Angst vor jedem weiteren Tag, an dem die Kämpfe in Gaza das Leben ihrer Liebsten bedrohten, seit Langem auf die Straße, und immer mehr Israelis schlossen sich den Demonstrationen an. Im zerstörten Gazastreifen konnte eine ausgehungerte, immer von Neuem vertriebene Bevölkerung dem Krieg nichts entgegensetzen, außer die Bilder ihrer verzweifelten Lage.
Israels europäische Verbündete drängten Ministerpräsident Benjamin Netanjahu seit Langem, die Waffen ruhen zu lassen, der damalige US-Präsident Joe Biden legte schon im Mai 2024 einen Plan vor, der dem aktuellen stark ähnelt, und selbst Joav Galant, mittlerweile zurückgetretener israelischer Verteidigungsminister, sagte bereits vor mehr als einem Jahr, die Hamas sei „keine militärische Einheit“ mehr.
Aber all das schien nicht zu reichen, der Krieg dauerte an.
Dann begann die Lage zu eskalieren. Immer mehr westliche Regierungen beschlossen, Palästina als Staat anzuerkennen. Israel reagierte darauf mit Drohungen, das Westjordanland zu annektieren. Anfang September schließlich schickte Israel zehn Kampfflugzeuge nach Katar, einen mit den USA verbündeten Staat, und versuchte dort vergeblich, mittels Raketenbeschuss Hamas-Anführer zu töten. Das alarmierte US-Präsident Donald Trump, der sich längst als Friedensstifter sehen wollte – und der sich in den USA mit einer zusehends Israel-kritischen öffentlichen Meinung konfrontiert sah.
Trump, der im Zwölf-Tage-Krieg Israels gegen den Iran seine treue Freundschaft zu Israel bewiesen und B2-Bomber geschickt hatte, konnte, anders als sein Vorgänger Joe Biden, echten Druck auf Netanjahu ausüben. Trump entwarf bis Ende September einen 20-Punkte-Friedensplan und ließ dem israelischen Premier keine andere Wahl, als zuzustimmen.
Es lag an der Hamas, darauf zu antworten, die sich tagelang Zeit ließ und schließlich in indirekte Verhandlungen mit Israel im ägyptischen Badeort Scharm-el-Sheikh eintrat. Einmal mehr banges Warten.
Plötzlich, Donnerstagfrüh um 0.51 Uhr, kam die überraschende Nachricht, dass Israel und die Hamas die erste Phase des Friedensplans unterzeichnet hätten, und weil Donald Trump die Ehre hatte, dies zu verkünden, erfuhr die Welt davon über seinen Account auf seiner eigenen Plattform „Truth Social“.
Von diesem Moment an feierten die Menschen in Israel und Gaza, israelische Oppositionspolitiker posteten Glückwünsche, Regierungschefs auf der ganzen Welt gratulierten und bedankten sich bei Präsident Trump. Manche in Khan Junis oder Tel Aviv sangen lauthals, andere konnten die frohe Botschaft nicht so recht glauben: „Ich hoffe, die Ruhe hält an, und der Krieg kehrt nicht zurück“, schrieb eine Frau aus Gaza über WhatsApp an profil.
Die Geschichtsschreibung wird den Gazakrieg der Jahre 2023 bis 2025 als den blutigsten und längsten der israelischen Geschichte führen: 1200 beim Hamas-Massaker getötete Menschen in Israel, 68.000 im Krieg getötete Palästinenser im Gazastreifen (laut Angaben des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums); 466 getötete israelische Soldaten; 83 getötete Geiseln.
Der Plan, wie der Krieg jetzt zu Ende gehen soll, wurde am Donnerstag unterzeichnet, besser gesagt: die erste Phase des Friedenplans.
Freilassung aller Geiseln
Bis spätestens Montagfrüh sollen alle noch lebenden Geiseln aus dem Gazastreifen nach Israel zurückkehren. Dafür ist eine Frist von 72 Stunden nach Inkrafttreten der Vereinbarung vorgesehen.
Unter den 20 noch verbleibenden Geiseln befindet sich etwa Avinatan Or, der am 7. Oktober 2023 gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Noa Argamani das Supernova-Musikfestival besucht hatte. Ein Video, das Argamani hilferufend auf einem Motorrad zeigt, ging damals um die Welt. In Haft wurde das Paar getrennt. Noa Argamani wurde im Juni 2024 als eine von wenigen Geiseln vom israelischen Militär gerettet. Ihr Partner blieb in Gefangenschaft.
Die jüngste Geisel, die in den nächsten Tagen freikommen könnte, ist der israelisch-deutsche Doppelstaatsbürger Tamir Nimrodi. Er war 18 Jahre alt und diente als Soldat an einem Grenzübergang im Norden des Gazastreifens, als er von der Hamas gekidnappt wurde. Ebenfalls deutsche Doppelstaatsbürger sind die Zwillingsbrüder Gali und Ziv Berman, 28, die aus ihrem Kibbuz Kfar Aza entführt wurden.
Einige der Verschleppten tauchten in den vergangenen Monaten in Propaganda-Videos der Hamas auf. Darunter Elkana Bohbot, 36, der ebenfalls vom Supernova-Musikfestival verschleppt wurde. In einem von der Hamas inszenierten Video sieht man ihn mit kurz rasierten Haaren auf einem Bett sitzen. Er bricht in Tränen aus, während er in einen Telefonhörer spricht. Bohbot erzählt davon, wie er nachts von seiner Frau und dem gemeinsamen Sohn träumt. Auf dem Nova Festival war auch Evyatar David, heute 24 Jahre alt. In einem grausamen Video der Hamas sieht man ihn bis auf die Knochen abgemagert in einem Tunnel unter der Erde. Er hält eine Schaufel in der Hand, sagt, dass er dabei sei, sein eigenes Grab zu schaufeln.
profil konnte vergangene Woche mit seinem Bruder Ilay sprechen. Auf die Frage, ob er auf Trumps Deal hofft, antwortete er damals noch vage: „Ich versuche, nicht zu optimistisch zu sein.“ Nun soll Evyatar freikommen.
Zu einem späteren Zeitpunkt sollen auch die Leichen der in Gaza getöteten Geiseln nach Israel zurückgebracht werden.
Die Hamas hat bereits anklingen lassen, dass für die Auffindung der Leichname von 28 Geiseln mehr Zeit nötig sei. Laut dem US-Sender CNN geht die israelische Regierung davon aus, dass die Hamas gar nicht in der Lage ist, alle Überreste getöteter Geiseln zu finden. Das liegt daran, dass einige in Gebieten festgehalten wurden, die nicht unter Kontrolle der Hamas stehen. Für die Suche nach ihnen soll nun eine internationale Einsatztruppe aufgestellt werden. Neben Israel nehmen die Türkei, die USA, Katar und Ägypten daran teil.
In den Verhandlungen über Trumps Friedensplan, die wohl noch mehrere Wochen dauern werden, könnte das zum Problem werden. Vereinbart war ursprünglich, dass die Hamas alle Geiseln, tot oder lebendig, zurückgeben muss.
Von Raphael Bossniak,
Siobhán Geets und
Robert Treichler
Für die israelische Regierung war dies die Bedingung für die Zustimmung zu Trumps Friedensplan. Netanjahu könnte diese Unsicherheit als Vorwand nutzen, um den Prozess abzubrechen, zitiert CNN eine israelische Quelle. Angehörige von Geiseln haben Netanjahu immer wieder vorgeworfen, die Verhandlungen zu torpedieren, um den Krieg weiterführen zu können. Wahrscheinlich ist, dass Netanjahu die Angelegenheit als Hebel in weiteren Verhandlungen nutzt.
Freilassung palästinensischer Gefangener
Vereinbart ist auch die Freilassung von bis zu 2000 palästinensischen Gefangenen, darunter 250 zu lebenslangen Haftstrafen verurteilte Terroristen sowie 1700 während des Gazakrieges inhaftierte Palästinenser, darunter Frauen und Minderjährige. Verhandelt wird noch darüber, welche Palästinenser freikommen sollen. Die Hamas hatte Israel eine Liste mit den Namen jener Gefangener übermittelt, die sie auf freiem Fuß sehen will. Darunter war offenbar auch der in einem umstrittenen Verfahren wegen der Beteiligung an einem Terrorangriff zu mehrfach lebenslanger Haft verurteilte Fatah-Politiker Marwan Barghouti. Er ist in der palästinensischen Bevölkerung beliebt und wird immer wieder als potenzielle Führerfigur gehandelt. Doch ihn will Israel nicht freilassen.
Laut Medienberichten verlangt die Hamas auch die Leichen ihrer getöteten Anführer, der Brüder Yahya und Muhammad Sinwar. Ersterer gilt als Architekt des Terrorangriffs vom 7. Oktober und starb im Oktober 2024 bei einem Feuergefecht mit den Israelischen Streitkräften (IDF) im Gazastreifen, Muhammad Sinwar folgte ihm als Hamas-Chef nach und wurde im Mai 2025 bei einem Luftangriff getötet.
Waffenruhe und Rückzug der IDF aus Gaza
Der schrittweise Abzug der IDF soll unmittelbar beginnen. Der Pakt sieht vor, dass sie sich zunächst aus rund der Hälfte des Gazastreifens zurückziehen.
Sicher ist, dass die Waffen schweigen sollen: Vereinbart ist ein vollständiger, anhaltender Waffenstillstand. Überwacht werden soll dieser von der Türkei, die bei den Verhandlungen eine wichtige Rolle spielte und sich auch am Wiederaufbau des Gazastreifens beteiligen will. Für ihre Bemühungen zur Beendigung des Krieges könnte die Türkei F-35-Kampfjets von den USA erhalten, die der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan schon lange fordert. Dem ebenfalls maßgeblich an den Verhandlungen beteiligten Emirat Katar hat Trump zugesichert, dass die USA es künftig gegen Angriffe verteidigen werden – so etwas wie eine Beistandspflicht nach NATO-Vorbild.
Lieferung humanitärer Hilfsgüter nach Gaza
Mit der Lieferung von Nahrungsmitteln, Medikamenten und anderen wichtigen Hilfsgütern soll schnell begonnen werden, ein Zeitrahmen wurde nicht genannt.
Ich bin sehr traurig darüber, so viele Verwandte, Nachbarn und Freunde verloren zu haben.
Asma Mustafa, Lehrerin in Gaza-Stadt
Tom Fletcher, UN-Generalsekretär für humanitäre Hilfe, fordert die sofortige Einfuhr von 170.000 Tonnen an Hilfsgütern in den Gazastreifen. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind seit Jahresbeginn rund 400 Menschen verhungert, ein Viertel davon Kinder. Eine Studie des „Lancet Medical Journal“ kommt zu dem Schluss, dass in Gaza 55.000 Kinder unter sechs Jahren von akuter Unterernährung betroffen seien. Nötig seien offene Grenzübergänge, sichere Bewegungsfreiheit für Zivilisten und Helfer sowie uneingeschränkter Zugang für Güter und Visa für Mitarbeiter, sagte Fletcher.
Was kommt danach?
Auf die erste Phase des Friedensplans soll eine zweite folgen. Dafür gibt es allerdings keine Garantie. Die Hamas, die anfangs vor die Wahl gestellt worden war, den gesamten 20-Punkte-Plan zu akzeptieren oder in den Worten Trumps „in der Hölle zu bezahlen“, will über die weiteren Punkte noch verhandeln, besonders über den heiklen ihrer Entwaffnung.
Die Bedingung für einen anhaltenden Waffenstillstand ist nämlich, dass die Hamas ihre Waffen abgibt. Aus Kreisen der Verhandler hieß es, die Hamas sei bereit, Angriffswaffen wie Raketen und größere Geschosse abzugeben, nicht aber Defensivwaffen wie Sturmgewehre.
Dass diese Verhandlungen scheitern könnten und der Krieg daraufhin neu aufflammt, daran will im Jubel über den eben erreichten Waffenstillstand niemand denken.
„Zwei Jahre lang sind meine Töchter ins Bett gegangen, ohne dass ihnen ihr Vater gute Nacht gesagt hat“, schrieb die Israelin Lishay Miran-Lavi, 48, am Donnerstag auf Instagram. Ihr Mann Omri ist eine der 48 Geiseln, die sich noch in Gaza befinden. Ob er am Leben ist, weiß sie nicht.
Auf der anderen Seite, in Gaza-Stadt, fragten die Töchter von Asma Mustafa, jener 38-jährigen Lehrerin aus Gaza-Stadt, mit der profil in Kontakt steht, vor dem Schlafengehen, ob sie eine Nacht ohne Raketeneinschläge erleben würden. „Endlich eine Waffenruhe“, schreibt Mustafa am Donnerstagabend auf Whatsapp. Doch in die Freude der Palästinenserin mischt sich Trauer. „Ich bin sehr traurig darüber, so viele Verwandte, Nachbarn und Freunde verloren zu haben. Einer davon ist mein Neffe, der wie ein Sohn für mich war. Es tut mir alles so leid. Gaza ist zerstört.“
Der Krieg ist kaum beendet, der Frieden noch zerbrechlich.