Wie geht Europa mit Social-Media-Plattformen um?
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Doomscrolling und Datenschutz: Europas ungelöste Social-Media-Frage

Europas Regierungen wollen Kinder und Jugendliche online besser schützen. Doch beim „Wie“ hakt es. Die EU ringt um strengere Vorgaben – Luxemburg hat eine Regelung, aber ist sie auch wirksam?

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Hastig tippt Milena Helminger auf ihrem Smartphone, als sie nach ihrer täglichen Bildschirmzeit gefragt wird. Acht Stunden, zeigt die interne Statistik. Acht Stunden an einem einzigen Tag. „Aber ich war auch nicht an der Uni“, sagt die Studentin aus Luxemburg und lächelt entschuldigend.

Der Hauptgrund für Milenas Online-Marathon ist schnell gefunden: Neben dem Messenger-Dienst WhatsApp sind es vor allem Instagram-Videos. „Doomscrolling“ nennt sich das endlose Weiterwischen von Clip zu Clip. Milena ist Ende zwanzig, irgendwo zwischen Gen Z und Millennial. In ihrer Familie nutzt jede Generation eine andere Plattform: Die Eltern sind auf Facebook unterwegs, die Jüngeren auf TikTok oder Snapchat. Milena selbst hat nahezu alles ausprobiert, vom MSN-Messenger bis zur BeReal-App. Trotz der allgegenwärtigen Kritik an Social Media kann sie den Digital-Diensten etwas abgewinnen – auch, weil sie in einer Kleinstadt in Luxemburg aufwuchs.

Das Großherzogtum Luxemburg zählt etwas mehr als 660.000 Einwohner – mehr als Salzburg, weniger als Tirol. Milena erinnert sich gut an die Zeit, bevor sie auf Social Media aktiv wurde: In Esch, der 36.000-Einwohner-Stadt, in der sie zur Schule ging und Ballettkurse besuchte, war vieles uniform. Quasi jeder kannte jeden, Abweichungen fielen sofort auf. Anpassen an die Mehrheit, das war die Regel. Mit Facebook öffnete sich für sie erstmals ein Fenster in andere Lebensrealitäten. „Ich dachte, jeder Mensch lebt so wie wir in Esch und dann habe ich erst realisiert, dass das nicht die Normalität ist.“ Für sie war das kein voyeuristisches Starren, sondern der Moment, in dem sie eine Welt jenseits der kleinbürgerlichen Gesellschaft Luxemburgs wahrnahm.

Schönheitsideal, Gewalt und Fake News

Aber längst sind soziale Netzwerke kein unbeschwerter Raum mehr. Milenas Feed wird heute mit problematischen Inhalten geflutet: unerreichbaren Körperidealen, Desinformation, Gewaltvideos. Ein Phänomen, das mittlerweile europaweit Sorgen bereitet und die Debatte über Einschränkungen bis hin zu Verboten für Jugendliche befeuert. Griechenland und Dänemark forderten zuletzt ein völliges Social-Media-Verbot für Kinder. Auch in Österreich werden Restriktionen diskutiert. Doch überall hakt die Debatte an der gleichen Frage: Wie soll das praktisch funktionieren?

In Luxemburg stellt sich diese Frage im Kleinen besonders zugespitzt: Wie sollen rund 50.000 Kinder und Jugendliche im Land den Umgang mit Social Media lernen? Und wie kann man Minderjährige überhaupt fernhalten? Das Großherzogtum hat bereits ein quasi Social-Media-Verbot für unter 16-Jährige gesetzlich verankert. Wer noch nicht das 16. Lebensalter erreicht hat, braucht die Zustimmung der Eltern, um Online-Dienste zu nutzen, das gilt für Online-Shopping, Online-Gaming und ebenso für soziale Netzwerke. „Digitale Mündigkeit“ nennt sich das Konzept aus der Datenschutzgrundverordnung. Allerdings: Kontrollieren will oder kann das niemand. Weder Behörden noch Eltern und am allerwenigsten die Plattformen, die ihr Geschäftsmodell nicht gefährden wollen.

Nationale Regelungen reichen nicht aus. Angesichts der grenzenlosen Natur des Internets wäre selbst ein gemeinsamer europäischer Ansatz womöglich zu kurz gedacht.

Sven Clement

Abgeordneter der luxemburgischen Piratenpartei

Eine Altersgrenze allein hilft also wenig. „Absolut nicht, in der Praxis wird diese Maßnahme vollständig umgangen“, sagt Sven Clement zu profil. Der Abgeordnete der luxemburgischen Piratenpartei kennt das Problem aus seiner eigenen Familie: „Die meisten jungen Menschen, einschließlich meiner eigenen Nichte und all ihrer Freundinnen und Freunde, waren lange vor diesem Alter auf diesen Plattformen aktiv. Es ist eine juristische Fiktion, die keinerlei tatsächlichen Schutz bietet.“

Clement lehnt altersbasierte Verbote entschieden ab – auch wegen des drohenden Verdrängungseffekts. „Solche Verbote treiben junge Nutzerinnen und Nutzer lediglich auf alternative, oft weniger sichere und unmoderierte Plattformen und machen sie dadurch weniger sicher.“ Sein Vorschlag: nicht die Endnutzer, sondern die Plattformen zu sanktionieren. Doch Luxemburg bleibt gegenüber den globalen Social-Media-Konzernen, wie viele europäische Staaten, ein kleiner Verhandlungspartner. „Nationale Regelungen reichen nicht aus. Angesichts der grenzenlosen Natur des Internets wäre selbst ein gemeinsamer europäischer Ansatz womöglich zu kurz gedacht.“

Sven Clement, Piratenpartei
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„Es ist eine juristische Fiktion, die keinerlei tatsächlichen Schutz bietet.“

Sven Clement, Abgeorndeter der Piratenpartei über die „Digitale Mündigkeit“

Europäisches Online-Ringen

Auf EU-Ebene ringt die Kommission seit Jahren um Lösungen. Einigkeit über das Problem besteht immerhin: Die Staats- und Regierungschefs forderten zuletzt im Oktober ein Mindestalter auf Social-Media-Plattformen. Als Vorbild dient Australien, wo ab Dezember Altersrestriktionen in Kraft treten werden – allerdings, ohne Strafen für Minderjährige oder Eltern. Stattdessen sollen Plattformen haften, wenn sie das Alter nicht ausreichend prüfen. Wie das jedoch datenschutzkonform funktionieren soll, weiß niemand so recht.

Ursula von der Leyen, EU-Kommissionspräsidentin
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Kritiker wie Clement halten die Maßnahme ohne ausgefeilte Altersverifikation für zahnlos. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verglich Altersvorgaben für Social-Media-Plattformen mit jenen für Tabak und Alkohol. Es sei wichtig, Minderjährige im digitalen Raum zu schützen, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der EU. Allerdings sollen nationale Zuständigkeiten respektiert werden. Soll heißen: Die Mitgliedsstaaten wollen das Thema also an die EU-Kommission delegieren, gleichzeitig soll Brüssel die Befindlichkeiten der einzelnen Staaten berücksichtigen.

Irgendwann wird das Körperbild, das du im Feed siehst, zur Normalität. Du vergleichst dich mit extrem trainierten und athletischen Körpern.

Milena Helminger

Studentin, über den Beauty-Wahn auf Social Media

Für Milena ist die Sache eigentlich klar. „Wenn ich eine Banking-App installieren will, kriege ich einen Code von der Bank. Davor muss ich bestätigen, wie alt ich bin.“ Eine Altersverifikation für soziale Medien hält sie daher für machbar. Wie gefährlich der endlose Feed für die mentale Gesundheit sein kann, hat sie selbst erlebt. „Irgendwann wird das Körperbild, das du im Feed siehst, zur Normalität. Du vergleichst dich mit extrem trainierten und athletischen Körpern.“ Es beginne harmlos, als sportliche Inspiration. Doch spätestens bei den „What I eat in a day“-Videos könne es gefährlich werden: „Das löst Selbstscham aus.“ Auf den einschlägigen Kanälen würden auch überwiegend kalorienarme Mahlzeiten gezeigt – mit gesunder Ernährung habe das wenig zu tun.

Stephanie Lukasik von der Universität Luxemburg hat die Problematik wissenschaftlich untersucht. Wie viele internationale Studien zeigt auch ihre Forschung, dass Social Media ein unterschätztes Gefahrenpotenzial birgt. „Besonders problematisch sind in diesem Zusammenhang etwa Kinder-Influencer. Diese werden hypersexualisiert und können zudem dazu beitragen, dass Nutzer sich frühzeitig einer Schönheitsoperation unterziehen wollen.“ Algorithmen verstärken diesen Effekt zusätzlich: „Sie gruppieren die Individuen nach Ähnlichkeiten, fördern demnach die Homogenisierung unserer Gesellschaft, nicht aber die Akzeptanz von Unterschieden.“

Die Regierung Luxemburgs hat die Risiken erkannt. Wie viele Staaten setzt sie vor allem auf mehr Medienkompetenz und Maßnahmen im schulischen Umfeld. Ein international kleiner, aber bewährter Schritt ist das Handyverbot im Unterricht, das die Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler erhöht. In Luxemburg sei zudem das schulische WLAN erst ab 15 Jahren nutzbar, Geräte wie Tablets eingeschränkt, erklärt Bildungsminister Claude Meisch von der Demokratesch Partei. Außerhalb der Schule ist der Staat freilich machtlos.

Unterschätzte Gefahr

In einem Punkt herrscht erstaunlich breite Einigkeit – bei Nutzerinnen und Nutzern, Politik und Wissenschaft: Social Media kann für junge Menschen gefährlich sein. Wie man diese Gefahr aber bändigt, bleibt ungelöst. Politisch wie technisch. Für Milena ist das nicht überraschend. „Als ich 12 war, gab es MSN und Chatroulette, das ist eigentlich nicht viel anders als heute.“ Die eigentliche Gefahr sieht sie inzwischen woanders – bei einer Nutzergruppe, die kaum jemand im Blick hat: „Bei meiner Tante finde ich es problematisch, weil sie sehr unreflektiert Dinge auf Facebook weiter postet.“ Eine Altersgruppe, die in der digitalen Sicherheitsdebatte kaum vorkommt.

Diese Recherche wurde mit finanziellen Mitteln des Projekts „Eurotours“ des österreichischen Bundeskanzleramts unterstützt.

Kevin Yang

Kevin Yang

seit November 2024 im Digitalteam von profil. Davor bei Wiener Zeitung und ORF.