Adipositas-Expertin Itariu: Ein Appell an Dick und Dünn
Gastkommentar von Bianca-Karla Itariu
Dicke Menschen arbeiten, zahlen Steuern, pflegen Angehörige, leiten Unternehmen und tragen dazu bei, das System am Laufen zu halten – ein System, das sie selbst im Stich lässt. Als Wahlärztin (in Österreich gibt es für Endokrinologie keine Kassenverträge), als Adipositas-Expertin, Wissenschafterin und Bürgerin bin ich erschüttert darüber, wie wenig Unterstützung, Verständnis und Solidarität dicken Menschen entgegengebracht wird und wie selbstverständlich ihnen der Zugang zu evidenzbasierten Behandlungen erschwert wird.
Adipositas entsteht meistens, wenn Menschen mit einer genetischen Veranlagung zum Überessen in einer Umgebung leben, in der hoch kalorienreiche Lebensmittel leicht verfügbar sind. Unsere Kalorienzufuhr liegt nicht allein in unserer Selbstverantwortung. Die Lebensmittelindustrie verdient Milliarden damit, dass sie unsere natürlichen Gewichtskontrollmechanismen durch unwiderstehliche Kombinationen aus Fett, Zucker und Salz aushebelt. Plunderteig hat ein ähnliches Verhältnis von Kohlenhydraten zu Fett, zu Eiweiß wie Muttermilch. Dieses Verhältnis von Nährstoffen regt den Appetit weiter an.
Während die Verhältnisprävention weltweit gescheitert ist, pochen Verantwortungsträger auf Selbstverantwortung – auch beim Kauf von Plunder. Die bewusste Kontrolle darüber, was und wie viel wir essen, hält unser Frontallappen, ein Hirnareal, das unseren Hunger nicht ändern kann, egal wie stark unser Wille ist. Wenn unser Gehirn auch noch etwas anderes tun muss, scheitern die Vorsätze. Würden dicke Menschen die geforderte Selbstverantwortung, wie es für nennenswerte und dauerhafte Gewichtsreduktion nötig wäre, strikt leben, wäre dies mit regulärer Lohnarbeit ziemlich unvereinbar – und selbst dann bliebe der Erfolg oft bescheiden.
Die Evidenz ist erdrückend: Durch Diät und Lebensstiländerungen lässt sich keine nachhaltige Gewichtsreduktion erreichen. Im besten Fall nehmen die Betroffenen fünf Prozent ab, gefolgt meist von einer erneuten Zunahme. Ein gesunder Lebensstil ist laut wissenschaftlichem Konsens keine ausreichende Behandlung von Adipositas.
Abnehmspritzen als medizinische Revolution
Medikamente und metabolisch-bariatrische Chirurgie sind evidenzbasierte Behandlungen bei Adipositas. Die sogenannten Abnehmspritzen haben sich als medizinische Revolution erwiesen (nachzulesen hier). Über 20 internationale Phase-III-Studien, die im „New England Journal of Medicine“ veröffentlicht wurden, belegen, dass sie Überessen verhindern, Herz, Nieren, Leber und Hirn schützen, die Fruchtbarkeit verbessern, bei Suchtproblemen helfen und das Leben verlängern können. Doch die Erstattung der Kosten für diese Medikamente ist gesetzlich ausgeschlossen. Ihre Anwendung ist somit ein Privileg für Wohlhabende. Auch der Zugang zur Chirurgie ist steinig. Wer sich für eine Operation entscheidet, muss mehrere Gutachten zur chefärztlichen Bewilligung einholen. Die Kriterien für diese Bewilligung beruhen auf Empfehlungen aus dem Jahr 1991 und wurden seitdem mehrfach von Fachgesellschaften kritisiert.
Die Zwei-Klassen-Medizin ist die Folge. Viele dicke Menschen achten sehr auf ihre Gesundheit und sind bereit, fast eine Monatsmiete für eine Spritze zu zahlen, wenn sie merken, dass sie wirkt. Die Pharmaindustrie kann den Preis ohne Verhandlungspartner bestimmen. Wer sich die Therapie leisten kann oder eine Privatversicherung hat, wird behandelt – alle anderen bleiben krank. Ein Patient beschrieb seine Behandlung wie folgt: „Das Grundproblem ist gelöst. Ich bin vor dem Überessen geschützt. Warum der österreichische Staat nicht einsieht, welche positiven Auswirkungen das hat, ist mir unverständlich.“
Adipositas zu behandeln, rettet Leben und spart Geld
Im Jahr 2019 verursachte Adipositas in Österreich direkte und indirekte Kosten in Höhe von 2,1 Milliarden Euro – durch Herzinfarkte, Krebs, Erwerbsunfähigkeit und vorzeitige Todesfälle. Diese Rechnung begleichen Dünne wie Dicke. Eine weitere IHS-Studie rechnet vor: Würde die Hälfte der Menschen mit einem BMI über 35 mit modernen Medikamenten behandelt, würden die Gesamtkosten um über 108 Millionen Euro jährlich sinken. Die Studie zeigt, dass selbst eine Teilbehandlung volkswirtschaftlich sinnvoll ist, wobei wir nicht vergessen dürfen, dass es in Österreich einen Anspruch auf medizinische Versorgung nach dem Stand der Wissenschaft gibt.
Die Österreichische Gesundheitskasse ÖGK zeigt sich bemüht: Adipositas-Reha, und in Ausnahmefällen wird eine Abnehmspritze für Kinder bezahlt. Doch wenn Frau X nach drei Wochen Reha wieder um fünf Uhr früh aufsteht, nach Wien pendelt und abends erschöpft heimkehrt, bleibt vom Reha-Effekt wenig.
Wir brauchen eine Demo der Dicken
Wenn Therapien Nebenwirkungen verursachen, wenn Komplikationen nach einer Operation auftreten, übernehmen wir als Behandelnde Verantwortung. Doch wir entscheiden nicht über Erstattungen, sondern können nur Evidenz aufzeigen, Leidensgeschichten erzählen und Vorurteile korrigieren – oft in unserer Freizeit, wobei uns dann Interessenskonflikte mit der Pharmaindustrie unterstellt werden. Doch wer haftet, wenn ein Gesundheitssystem Therapien verweigert?
Soeben erschienen
Das Gewicht unserer Körper. Haymon, 264 Seiten, 20 Euro.
Widerstehen Sie und fordern Sie Zusammenhalt! Wir brauchen ein systemisches Umdenken und neue Bündnisse. Nicht in Politik und Verwaltung, sondern bei Ihnen, liebe dicke Menschen. Stehen Sie auf! Werden Sie aktiv und fordern Sie Solidarität ein! Der Weg führt vom privaten Leiden zum politischen Handeln. Verbünden Sie sich, werden Sie laut! Wenn am Gebäude des Hauptverbandes „Soziale Sicherheit ist die Grundlage der Demokratie“ steht, dann gilt das auch für Sie. Fordern Sie selbstbewusst wirksame Prävention, bessere Gesundheitsbildung, Schutz vor Überessen, gesetzlichen Diskriminierungsschutz sowie eine Regulierung der Lebensmittelindustrie, die über die Shrinkflation hinausgeht. Und Zugang zur Therapie für alle, die sie brauchen.
Am 4. März, dem Welt-Adipositas-Tag, braucht es endlich eine Demo der Dicken. Bewegung an der frischen Luft soll ja für Dick und Dünn gesund sein. Laden Sie uns gerne dazu ein. Sie können auf mich und meine Kolleginnen zählen. Denn eine gesunde Gesellschaft ist eine solidarische Gesellschaft – für alle.
Bianca-Karla Itariu
ist Endokrinologin und Präsidentin der Österreichischen Adipositas Gesellschaft.