Das Ungarn-Problem der EU

Ungarns Regierung soll ein Spionagenetzwerk in Brüssel betrieben haben. Der Fall zeigt einmal mehr: Wenn es um Viktor Orbán geht, wirkt die EU hilflos.

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Jetzt ist schon wieder etwas passiert. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán soll seinen Auslandsgeheimdienst veranlasst haben, die EU auszuspionieren. Agenten hätten sogar versucht, in der EU-Kommission Beamte anzuwerben. Das belegen Recherchen eines internationalen Mediennetzwerks, aus Österreich war der „Standard“ dabei.

Agent „V.“ habe sich für jegliche Informationen aus der EU-Kommission interessiert, die Nähe zu Beamten gesucht und mindestens einem Geld angeboten. Geplant war offenbar auch, Orbán-treue Leute auf einflussreiche Posten zu hieven. Stationiert war V. in der ständigen Vertretung Ungarns in Brüssel. EU-Botschafter war damals Orbáns Vertrauter Oliver Várhelyi, aktuell EU-Gesundheitskommissar. Várhelyi behauptet, nichts von der Sache gewusst zu haben, und aus Budapest heißt es, es habe gar keine Spionageaktion gegeben. Beides ist schwer zu glauben.

Brüssel ist mit seinen internationalen Organisationen ein Hotspot für Spione. Das Besondere an dem aktuellen Fall ist, dass Ungarn seine Agenten auf die EU selbst ansetzte, obwohl es Teil der geheimdienstlichen Kooperation des Staatenbundes ist. Und es ging dabei besonders ruchlos vor. Aufgeflogen ist der Fall offenbar, weil die ungarische Regierung ihre Agenten in Brüssel zu raschen Ergebnissen drängte – und diese immer unvorsichtiger agierten. Deswegen sei die Aktion, die seit 2012 lief, im Jahr 2018 abgebrochen worden.

Die Angelegenheit passt ins Bild, Ungarn ist schon lange ein Problem für die EU. Zu Hause baut Orbán Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ab, in Brüssel unterwandert er die Geschlossenheit und die Handlungsfähigkeit der EU. Überall dort, wo das Einstimmigkeitsprinzip herrscht, allen voran in der Außen- und Sicherheitspolitik, kann die Staatengemeinschaft nicht ohne Orbán handeln. Im Rat der Staats- und Regierungschefs blockiert er wichtige Entscheidungen, etwa bei der Frage von Sanktionen gegen Russland oder Hilfen für die Ukraine. Immer wieder muss getrickst werden, um Vorhaben an Ungarn vorbei durchzubringen. So wurden etwa wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit eingefrorene Mittel wieder freigegeben, im Gegenzug verließ Orbán den Raum, damit Einstimmigkeit herrschte. Und beim EU-weiten Verbot für Öl- und Gasimporte aus Russland gelang es zuletzt, Ungarn zu überstimmen, weil die Regelung als handelsrechtliche Initiative eingebracht wurde und deshalb mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden konnte.

Ungarn gehört schon lange nicht mehr zum vereinigten demokratischen Europa, doch hinausschmeißen kann man das Land nicht. Möglich wäre ein Entzug des Stimmrechts, allerdings braucht es dafür Einstimmigkeit, und bisher hat sich immer ein Mitgliedstaat hinter Ungarn gestellt. Der EU bleibt die Option, Orbán ernsthaft zu drohen – und zumindest ein Verfahren zum Stimmrechtsentzug einzuleiten – doch auch dafür gab es bisher keine Mehrheit.

Ohne große Konsequenzen bleiben wird wahrscheinlich auch die Spionageaffäre. In Brüssel hat der Fall für Empörung gesorgt, doch der Wille zur Aufklärung ist überschaubar. In der EU-Kommission nimmt man die Sache „sehr ernst“, eine Untersuchung wurde eingeleitet, und Kommissionschefin Ursula von der Leyen hat ein Gespräch mit Ungarns Kommissar Várhelyi geführt. Viel wird von der Leyen aber nicht ausrichten können: Sollte Várhelyi suspendiert werden, kann Orbán einfach einen neuen Vertrauten nach Brüssel schicken.

Im EU-Parlament fordern die Grünen einen Untersuchungsausschuss, doch auch dazu wird es wohl nicht kommen. Ein solcher würde Orbán in die Hände spielen, heißt es dazu aus der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP). Der Vorschlag der Grünen sei kurzsichtig, in Wahrheit würde ein Untersuchungsausschuss Orbán die Bühne für seine Propaganda bieten: Die EU als Feind und sich selbst als Verteidiger Ungarns darzustellen.

Das Problem mit Orbán könnte sich auch anders lösen lassen. Im kommenden April finden in Ungarn Parlamentswahlen statt, und in den Umfragen führt der Oppositionelle Péter Magyar von der konservativen Tisza-Partei. Das Ende der Ära Orbán würde auch einen Schlusstrich unter die Groteske in Brüssel ziehen.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort und seit 2025 stellvertretende Ressortleiterin. Schwerpunkt: Europa und USA.