Leitartikel

Robert Treichler: Es tut gar nicht weh

Ein Vorschlag, wie wir Skeptiker in die Impfstraßen bringen. Ohne Zwang.

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Es ist zum Haareraufen. Der langersehnte Impfstoff ist längst in ausreichender Menge vorhanden, die Impfstraßen funktionieren wie am Schnürchen, das Piksen tut gar nicht weh, und trotzdem erreichen wir die rettende Herdenimmunität nicht. Und warum nicht? Weil die Herde nicht mitspielt. Jedenfalls kein ausreichend großer Teil von ihr.
Die Herde, das sind wir alle, und unter uns sind rund 25 Prozent, die aus unterschiedlichen Gründen ungeimpft bleiben wollen. Ihnen schlägt ziemlich viel Unmut entgegen, und das ist verständlich. Die Herdenimmunität zu verpassen, ist gleichbedeutend mit dem erhöhten Risiko einer neuerlichen, heftigen Welle der Pandemie im Herbst und allen damit verbundenen Übeln: Einschränkungen, Lockdowns, Schulschließungen, und vor allem: Infektionen und Leid.

profil fragt in der aktuellen Ausgabe Impfmuffel nach ihren Beweggründen. Es sind Leute wie du und ich, allesamt aus der sprichwörtlichen Mitte der Bevölkerung. Manche von ihnen lehnen Impfungen nicht generell ab und zögern bloß, andere bringen Einwände vor, die auf mulmigen Gefühlen beruhen und von Experten leicht widerlegt werden können. Spoiler: Keiner der Gründe, sich nicht impfen zu lassen, ist letztlich valide. Aber so ist das mit vielen unserer Ängste. Irrationalität spielt dabei eine große Rolle.

Es ist notwendig, zu erfahren, wie dieser Teil der Bevölkerung denkt, denn noch wäre Zeit genug, möglichst viele von ihnen in die Impfstraßen zu lotsen. Zu schubsen, zu locken oder gar zu … zwingen?

Das ist derzeit die große Frage. Was soll der Staat tun, wie streng soll er sein, wenn es darum geht, die Bevölkerung zu schützen?

profil-Herausgeber Christian Rainer plädierte kürzlich an dieser Stelle für eine Impfpflicht, und er ist nicht der Einzige, der  – nachvollziehbar genervt – für Härte plädiert.

Doch ein solches Vorgehen birgt auch Risiken. Bürgern gegen ihren Willen einen medizinischen Eingriff zu verordnen, erfordert vorab die Abwägung einander widerstreitender Grundrechte und zudem den Beweis, dass der Schutz der Bevölkerung mittels gelinderer Mittel – Masken, Tests, Abstand – nicht erreicht werden kann. Keine eindeutige Sache.

Aber selbst wenn der Staat eine Impfpflicht inklusive Sanktion im Falle der Verweigerung verhängen darf, wäre das ein riskantes Manöver. Wenn die Regierung Hunderttausende gegen ihre Überzeugung mittels Verwaltungsstrafdrohung in die Impfstraßen treibt, würde sie einen nicht geringen Teil der Bevölkerung gegen sich aufbringen und von den staatlichen Institutionen entfremden. Mit unabsehbaren Folgen.

Das wird diese Bundesregierung nicht leichtfertig riskieren und wahrscheinlich auch keine andere. Sind wir also dazu verdammt, tatenlos zuzusehen, wie uns der wichtigste Effekt der Corona-Schutzimpfung durch die Lappen geht?

Nein. Die Interviews mit den Impfmuffeln in dieser Ausgabe zeigen, dass es bei vielen von ihnen nicht viel bräuchte, damit sie ihren Oberarm freimachen. Nämlich: Vertrauen. Weil die Angst vor dem Impfstoff irrational ist, bedarf es auch emotionaler Gegenmaßnahmen. Kein PR-Konzept der Bundesregierung oder der Gesundheitsbehörden kann dies leisten, gefragt sind vielmehr: wir alle.

Der Vorschlag geht so: Impfskeptiker haben Verwandte, Freunde, Arbeitskollegen, die ihrerseits geimpft sind und mit denen sie ein vertrautes Verhältnis haben. Leute wie Sie und ich. Wir, die Geimpften, müssen auf die Zweifler zugehen und sie davon überzeugen, dass die Impfung ungefährlich und sinnvoll ist. Sind Sie schon mal mit jemandem Sessellift gefahren, der Höhenangst hat? Dann wissen Sie, was zu tun ist. Sagen Sie: „Es ist mir wichtig, dass du gesund bleibst! Bitte lass dich impfen!“

Klar sind unter den Impfverweigerern auch Leute, die aus ihrer Abneigung gegen die Corona-Schutzimpfung ein bestimmendes Element ihrer Persönlichkeit gemacht haben – krause Verschwörungstheoretiker, in metaphysische Sphären abgeglittene Esoteriker, mit Hammer und Sichel bewaffnete Pharma-Konzern-Kritiker und Herbert Kickl. Sie alle werden wohl ungeimpft bleiben. Wenn es aber gelingt, einen Großteil der zugänglichen Noch-Skeptiker zu erreichen, hätten wir alle als Gesellschaft gewonnen.

Dazu ist es notwendig, die Feindseligkeit auf beiden Seiten abzubauen. Auch wenn ich die Beweggründe der Impfskeptiker nicht nachvollziehen kann – und das kann ich tatsächlich nicht –, so erkenne ich darin keine Aggressionen gegenüber anderen. Anders als in der Flüchtlingsfrage etwa, wo sich Abneigung gegenüber Eliten und „Mainstream-Medien“, Dissidenz gegenüber der Faktenlage und eine Neigung zu Welterklärungsmärchen mit Bösartigkeit gegenüber Ausländern paaren. Viele Impfskeptiker sind dagegen bloß übervorsichtig.

In der Pandemie ist kaum etwas so wichtig wie der Zusammenhalt der Gesellschaft. Der kann nur erhalten bleiben, wenn die Menschen überzeugt sind, dass das, was sie tun, richtig und notwendig ist.

Kennen Sie einen Impfskeptiker oder eine Impfskeptikerin? Reden Sie mit ihnen!

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur