Am Grenzübergang Nickelsdorf in Richtung Ungarn spitzt sich die Lage zu

Die Corona-Chroniken: Zangenangriff im Generationenkonflikt

Der tägliche profil-Überblick zur Corona-Krise.

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Tag 3 im Ausnahmezustand: Der erste Schock ist abgeklungen, die Angst bleibt. Die Supermarktregale sind nicht leer, an den Tankstellen gibt es Benzin, die Bankomaten spucken Geld aus. Aber die Folgewirkungen der Krise werden erst nach und nach sichtbar – zum Beispiel in der Landwirtschaft, wo plötzlich die (ohnehin nicht wirklich gut bezahlten) Erntehelfer aus Osteuropa fehlen, weil sie verständlicherweise das Land verlassen. Und die Infektionszahlen steigen weiter an (siehe unten).

Ferienlagerstimmung nutzt sich ab

In vielen Haushalten nutzt sich die Ferienlagerstimmung (endlich wieder einmal Brettspiele!), die in den ersten 48 Stunden noch irgendwie charmant war, währenddessen bereits merklich ab. Postings mit Fotos von gefesselt und geknebelt vor dem Homeoffice-Schreibtisch liegenden Kindern sind nur halb scherzhaft gemeint. Immerhin: Langsam wird auch vielen Schülerinnen und Schülern klar, was ein Klassenzimmer voller Gleichaltrigen positiv von einem Wohnzimmer voller Eltern unterscheidet.

Generationenkonflikt

Währenddessen tut sich ein neuer Generationenkonflikt auf; besser gesagt eine Art Zangenangriff: Viele Junge finden die Lage eher spannend als bedrohlich, eine Zombie-Apokalypse ohne Zombies, bei der es eh nur die Alten erwischt. Viele Alte wiederum ignorieren (warum eigentlich?) die Epidemie, weil ihnen ihrer Meinung nach sowieso keiner was kann. „Ganz schön seltsam, wenn man seine eigenen Eltern unter Hausarrest stellen muss“, schrieb eine Facebook-Bekannte gerade.

So richtig besorgt ist vor allem die demografische Mittelschicht: Boomer und Angehörige der Generation X. Die haben einerseits um ihre Eltern Angst und andererseits um ihre Jobs und damit auch wieder um ihre Kinder – auch wenn die es lustig finden, das Coronavirus „Boomer-Remover“ zu nennen.

Michael Nikbakhsh und Martin Staudinger

PS: Michael Nikbakhsh schuldet den tapferen Apothekerinnen und Apothekern eine Entschuldigung. Er hatte vor einigen Tagen in einer profil-Morgenpost über Glücksritter geschrieben, die auf willhaben.at Schutzmasken, Einweghandschuhe, Desinfektionsmittel zu „Apothekerpreisen“ verticken. Ein Wiener Neustädter Apotheker fand das unangemessen: „Ich und meine KollegInnen stehen seit vorigen Freitag im Zentrum eines hustenden und schnupfenden Kundenansturms, wohl wissend, dass wir uns mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Covid-19 aussetzen mussten – oder wie es ein Kunde heute ausgedrückt hat: ,Hm, ihr sitzt aber auch auf dem Schleudersitz im Moment.‘ Niemand von uns würde es sich erlauben oder eigentlich auch nur andenken, aus dieser Situation einen pekuniären Vorteil zu ziehen.“ Sorry dafür, so war das natürlich nicht gemeint. Den Apothekern gebührt unser allergrößter Respekt. Diesen (und uns allen) wünschen wir: Bleiben Sie gesund!

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Die Lage zu Mittag

Das Gesundheitsministerium meldet landesweit (Stand 18.3.2020, 8.00 Uhr) 1471 bestätigte Coronavirus-Fälle nach 11.977 vorgenommenen Testungen. In 24 Stunden ist die Zahl der nachgewiesenen Infektionen damit um 339 gestiegen.

Die Zahl der amtlich bestätigten Covid-19-Todesfälle liegen bei fünf (zwei Männer in Wien, eine Frau und zwei Männer in der Steiermark).

Neun Patientinnen und Patienten sind mittlerweile genesen.

Die meisten bestätigten Infektionsfälle hat unverändert Tirol (352, plus 77 in 24 Stunden), gefolgt von Oberösterreich (285, plus 54), Niederösterreich (237, plus 72), der Steiermark (188, plus 43) und Wien (180, plus 50). Die wenigsten Fälle verzeichnet weiterhin Kärnten mit 29 (plus 11) positiven Testungen.

Weltweit wurden bisher rund 198.000 Fälle bestätigt (zur Seite des Gesundheitsministeriums geht es hier.)

Die Situation in Tirol bleibt herausfordernd. Wie Vizekanzler Werner Kogler gestern auf Puls4 erklärte, müssen sich nun auch alle Personen isolieren, die in den vergangenen zwei Wochen irgendwo in Tirol waren. Mit Sölden im Ötztal und St. Christoph am Arlberg wurden zwei weitere Gemeinden unter Quarantäne gestellt.

Am Grenzübergang Nickelsdorf im Burgenland wiederum ist die Lage prekär, nachdem Ungarn seine Grenzen dicht hält. Auf österreichischer Seite reiche der Stau mittlerweile 30 Kilometer zurück, berichtete der ORF heute Morgen.

In unseren Ozeanen leben 10 hoch -31 Viren, das muss man sich einmal vorstellen: Das sind mehr als alle Planeten im gesamten Universum. Die leben mit uns, und die meisten sind gutartig - aber manche sind auch bösartig. Genetiker Josef Penninger

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Wieder einmal keiner zuständig

Italiens Gläubige stehen vor einer schwierigen Frage: Welcher Heilige hilft gegen Viren?

Von Thomas Migge, Rom

Papst Franziskus machte es Mitte März vor. In der römischen Kirche San Marcello betete er inbrünstig und kniend vor einem uralten Kruzifix. 1522 soll es Rom von der Pest befreit haben.

Dass er ein Kruzifix aufsuchte, das gegen die Pest geholfen haben soll, liege daran, dass „es keine speziellen Heiligen für Virusinfektionen gibt“, so der römische Vatikanexperte Sandro Magister. Also wird in vielen Kirchen Italiens, die noch geöffnet sind, dieser Tage nach Ersatz gesucht. Vor allem die Heiligen Rocco, Abbondio, Sebastian und Sankt Rita von Cascia stehen dabei hoch im Kurs. Dabei werden antike Pest-Riten und -Gebete reaktiviert, die in den vergangenen Jahren selbst in der eher traditionellen Kirche Italiens weitgehend in Vergessenheit geraten waren.

Am meisten Hilfe gegen Corona erhofft man sich in Italien vom Heiligen Rocco, der traditionell als Pesthelfer verehrt wird. Er war Franzose und wurde um 1345 in Montpellier geboren. Wahrscheinlich 1379 starb er im italienischen Voghera. In den wenigen Privatwagen, Linienbussen und Taxis, die in Rom noch fahren, bekommt man nun oft ein Bildnis von ihm zu sehen.

In nicht wenigen digital übertragenen Gottesdiensten (Live-Messen sind ja strengstens untersagt), rufen Priester dazu auf, San Rocco anzubeten - am besten gleich mehrmals täglich. Katholische Rundfunksender strahlen alle paar Stunden Gebete an ihn aus.

Gegen das Coronavirus können Fromme auch via Internet beten. Und zwar von Montag bis Freitag von 11.45 Uhr bis 12.15 Uhr live auf der Facebook-Seite der Heiligen Santa Rita von Cascia. Still und heimlich, um nicht von der kontrollierenden Polizei erwischt zu werden, machen sich in Rom nachts einsam betende Büßer auf den Weg zur Madonna del Divono Amore am Stadtrand – in der Hoffnung, eine noch höhere Instanz dazu bewegen zu können, die Pandemie zu stoppen.

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Rollentausch

Wenn Du plötzlich Teil einer Krise bist, anstatt über Krisen zu berichten

Von Martin Staudinger

Das Handy piepste knapp nach Mitternacht: „Hello Martin! Hope you are doing good! How are you dealing with corona virus?“, wollte Arturo besorgt über Facebook wissen. Das wäre ja an und für sich nichts Ungewöhnliches: man erkundigt sich eben bei alten Bekannten, von denen man befürchtet, dass sie es gerade nicht leicht haben. In diesem Fall war es aber mehr als das – eine Art Rollentausch nämlich.

Denn Arturo lebt in einer der gefährlichsten Gegenden der Welt. Er stammt aus Ciudad Juaréz im Norden Mexikos – einer Stadt, die zeitweise einen fragwürdigen Rekord hielt: Den der meisten Morde pro Tag. Arturo arbeitet nicht nur als Uni-Lektor und Journalist, sondern auch als „Stringer“. Er unterstützt ausländische Kollegen bei ihren Recherchen vor Ort, vermittelt ihnen Interviews und übersetzt. Wir kennen uns seit einer Reportage im Jahr 2011, als die Gewalt in Juaréz einen ihrer traurigen Höhepunkte erreichte, haben seither Kontakt gehalten und sind, soweit es die Distanz zulässt, befreundet.

Manchmal ist es so, dass ich Arturo kontaktiere, weil es in Mexiko wieder einmal kracht und ich eine Geschichte wie diese bei ihm in Auftrag geben möchte; öfter unterhalten wir uns aber auch bloß, um zu hören, wie es ihm und seiner Familie geht.

Jetzt: Umgekehrte Situation. Arturo meldet sich aus dem Drogenkrieg, um mir in Österreich Mut zuzusprechen. „My prayers for you and your family, that your famous country will return to normality!“, schreibt Arturo zum Abschied, es ist bereits weit nach Mitternacht: Ein Satz, den ich ihm in ähnlicher Form schon oft geschrieben habe.

Und mir wird – auch wenn die Situation hier dem direkten Vergleich mit Nordmexiko nicht standhält – zum ersten Mal bewusst, wie es sich anfühlt, wenn man nicht über Krisen berichtet, sondern Teil einer Krise ist.

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Die Unbedankten

Warum es absolut angebracht ist, den Supermarktkassiererinnen die Reverenz zu erweisen

Von Sven Gächter

Auch im Supermarkt sind die Menschen penibel auf Abstand bedacht – außer in der Schlange vor der Kassa. Dass es nicht schneller geht, wenn man näher zusammenrückt, spielt dabei keine Rolle. Die Kassiererin trägt weiße Schutzhandschuhe und wirkt so müde, als hätte sie seit Tagen nicht geschlafen, was vermutlich der Wahrheit entspricht. Wie von einem Autopiloten gesteuert zieht sie die Lebensmittel über den Scanner.

Beim Bezahlen übermannt mich das Mitgefühl. „Danke für Ihren tapferen Einsatz an der Front!”, sage ich und schäme mich fast ein wenig für so viel prosaisches Pathos. Die Kassiererin schenkt mir ein ebenso überraschtes wie glückliches Lächeln. Offenbar hat sie Sätze wie diesen in den vergangenen Tagen nicht sehr oft gehört. Ich werde ihn nun umso konsequenter verwenden.

Michael   Nikbakhsh

Michael Nikbakhsh

war bis Dezember 2022 stellvertretender Chefredakteur und Leiter des Wirtschaftsressorts.