Türkis oder schwarz

Die ÖVP im falschen Film

Bundeskanzler Karl Nehammer leidet zunehmend unter dem Öffentlichkeitsbedürfnis seines Vorgängers Sebastian Kurz. Wie viel Türkis steckt noch in der ÖVP?

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Vergangenen Mittwoch kam es in Wien zu einer bemerkenswerten Koinzidenz. Während im Straflandesgericht der Prozess gegen den früheren Kanzler und ÖVP-Obmann wegen falscher Zeugenaussage begann, lauschte der aktuelle Kanzler und ÖVP-Obmann einen Kilometer weiter der Budgetrede seines Finanzministers.

Einen Kanzler Karl Nehammer gäbe es nicht ohne Sebastian Kurz, umgekehrt gilt das nicht. Kurz machte die ÖVP zur Nummer 1, Nehammer wird diesen Platz bei der Wahl nächstes Jahr nicht verteidigen können. Kurz formte aus der ÖVP eine Bewegung, Nehammer verantwortet den Rückbau zur Bünde-Partei. Wie viel Türkis steckt noch in Schwarz? Gibt es Unterschiede zwischen der Nehammer-ÖVP und der Kurz-ÖVP und wenn ja, welche?

An der inhaltlichen Ausrichtung der Partei änderte sich nicht viel. Kurz’ scharfer Kurs in der Migrationsfrage wird von seinem Nachfolger Nehammer weitergetragen, den dieser als Innenminister maßgeblich mitgestaltet hatte. Zwischen Corona, Krieg und Teuerung blieb Nehammer kaum Zeit, sein persönliches Profil als Parteichef zu schärfen. Von Kurz übernahm er den Krisenmodus sowohl der Partei als auch der Republik.

Schuf sich Nehammer Raum zur Selbstentfaltung, etwa bei seiner Zukunftsrede im vergangenen März, bediente er die türkisen Dogmen: Leistung solle sich lohnen, Zugewanderte weniger Sozialleistungen erhalten und Klimaschutz ohne Verbote auskommen. Außenpolitische Stunts wie der Besuch beim russischen Präsidenten Wladimir Putin oder die Blockade des Schengen-Beitritts von Rumänien und Bulgarien hätte wohl auch Sebastian Kurz hingelegt. 

Das alte Strategiedesign bei der Migration  stammt von ÖVP-Kommunikationschef Gerald Fleischmann. Dass der frühere Kurz-Intimus in der Inseraten-Affäre als Beschuldigter geführt wird, war für die ebenfalls verdächtigte ÖVP kein Hindernis, ihn zurück in die Parteizentrale zu holen. Von Stefan Steiner, dem langjährigen engsten Berater von Kurz, hat sich die Partei mittlerweile getrennt.

Neuer Markenauftritt

Den Markenauftritt der ÖVP ließ Nehammer sachte verändern. Unter Kurz hieß sie „Die Neue Volkspartei“ unter Nehammer wieder „Die Volkspartei“. Aus Neu mach Alt. Auch das Türkis der Parteifarbe wurde leicht geändert. Die farbliche Abgrenzung von der Regierungsarbeit hält Nehammers Team nicht immer ein. Gern werden Postings des Kanzleramts mit türkisen Farbstreifen unterlegt, zuletzt bei der – gescheiterten – Rettungsmission einer Hercules-Maschine des Bundesheeres nach Israel.

Das Verhältnis zwischen Kurz und seinem Nachfolger wird als nicht mehr sehr eng beschrieben. Nehammer ist in einer undankbaren Situation. Wenn ein Strahlemann eine Partei mit einem von ihm verschuldeten Reputationsschaden übergibt, hat es dessen Nachfolger doppelt schwer. In der Gestaltung seiner Beziehung zu Kurz entschied sich dessen ehemaliger Generalsekretär Nehammer zu einer Taktik des Auskühlens. 

Beim Grazer Parteitag im Mai 2022, auf dem er mit 100 Prozent zum neuen Bundesparteiobmann gewählt wurde, sah die Regie keine Abschiedsrede von Kurz vor. Stattdessen betrat dieser nur zu einem kleinen Adieu-Plausch mit Wolfgang Schüssel die Bühne. Auch in der Folge wurde Kurz nicht mehr eingebunden. An der Spitze kann es nur einen geben.

Wie groß die Strahlkraft seines Vorgängers noch ist, konnte Nehammer bei der Premiere des Films „Kurz“ im September erleben. Das Kino in der Wiener Innenstadt war gesteckt voll. Nicht nur seine Mitstreiter, die ehemaligen Minister Elisabeth Köstinger und Gernot Blümel, waren Kurz’ Einladung gefolgt, sondern auch die aktiven Minister Karoline Edtstadler, Martin Kocher, Klaudia Tanner, Susanne Raab und Norbert Totschnig. Außenminister Alexander Schallenberg schaute bei der Premieren-Party vorbei, bei der zu Mitternacht auch Karl Nehammer auftauchte. An diesem Abend war der Ex-Kanzler und nicht der aktuelle der Hauptdarsteller. Nehammer musste sich im falschen Film wähnen.

Negativer Kurz-Effekt

Keinem Kanzler kann es gefallen, wenn sein Vorgänger Präsenz zeigt, statt sich in Zurückhaltung zu üben. Auch wenn die Partei ihm den Anwalt zahlt, dürfte Kurz das Gefühl haben, Teile der Partei hätten ihn allzu rasch fallen gelassen. Vor allem in den Ländern war die Wunderkindesweglegung rasch durchgezogen worden. 

Für einige Landeshauptleute setzte es einen umgekehrten Kurz-Effekt: Sie konnten jene Wahltriumphe nicht bestätigen, die sie auch dank der Popularität von Kurz erzielt hatten. So verlor Johanna Mikl-Leitner bei den heurigen Landtagswahlen in Niederösterreich im Vergleich zu 2018 ebenso deutlich wie der Salzburger Landeshauptmann Wilfried Haslauer. Beide bildeten daraufhin eine Koalition mit der FPÖ. In Linz regiert Landeshauptmann Thomas Stelzer schon länger mit den Freiheitlichen. 

Allerdings finden sich in der ÖVP auch genug Anhänger einer großen Koalition, von der Kurz bekanntlich wenig hielt. In Kärnten gibt die Volkspartei den Juniorpartner von SPÖ-Landeshauptmann Peter Kaiser. In der Steiermark und in Tirol regieren die Landeshauptmänner Christopher Drexler und Anton Mattle jeweils mit der SPÖ. 

Die Landeshauptleute, die normalerweise einen schwachen Bundesparteiobmann bevorzugen, hatten sich Kurz im Jahr 2017 unterworfen und ihm Freiheiten bei der Erstellung der Kandidatenlisten und der Minister-Auswahl eingeräumt. Unter Nehammer holten sie sich die Partei wieder ein Stück weit zurück.

Auch die Teilorganisationen haben sich wieder verselbstständigt. Wirtschaftsbund-Präsident Harald Mahrer wurde in der Obmannschaft von Kurz-Vorgänger Reinhold Mitterlehner geprägt und war nie im engsten Kreis um Kurz. Bauernbund und Arbeitnehmerbund haben einen eher egoistischen Zugang. Solange ihre Klientel, Landwirtschaft und Beamtenschaft, ausreichend versorgt ist, kümmert sie wenig, wer an der Spitze der Bundespartei steht. Sehr türkis blieb die Junge Volkspartei, von der aus Sebastian Kurz seine Karriere ins Kanzleramt einst begann.

Treue Kurz-Fans

Die treuesten Kurz-Fans finden sich im ÖVP-Parlamentsklub. Dort zeigt man sich von Fragen nach der Parteifarbe freilich genervt. Ob Schwarz oder Türkis, die inhaltliche Ausrichtung der Partei sei dieselbe geblieben: Leistung müsse sich lohnen und Familien unterstützt werden. Gerade in der Woche der Budgetrede würden die Abgeordneten lieber die eigenen Erfolge zelebrieren als über einen Altkanzler vor Gericht zu sprechen. „Sie sind der erste, der mich diese Woche auf den Kurz-Prozess anspricht“, sagt ÖVP-Abgeordnete Corinna Scharzenberger am Mittwoch am Rande des Plenums im Nationalrat zu profil. 

Nicht wenige ÖVP-Mandatare haben ihren Platz im Nationalrat Sebastian Kurz zu verdanken. Ehemalige Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger wie der Mathematiker Rudolf Taschner oder die frühere Stabhochspringerin Kira Grünberg wurden von Kurz in die Politik geholt. Viele andere Mitglieder des ÖVP-Klubs hätten ohne Kurz´ Erfolge bei den Wahlen 2017 und 2019 keine Chance auf ein Mandat gehabt. Als Pragmatiker gilt ÖVP-Klubobmann und ÖAAB-Präsident August Wöginger. Er war stets loyal zu Kurz, ist persönlich aber eng mit Nehammer befreundet, der von 2016 bis 2019 Wögingers Generalsekretär im ÖAAB war. 

Ebenfalls noch sehr türkis präsentiert sich die Wählerschaft der Volkspartei. Fast zwei Drittel der befragten ÖVP-Wählerinnen und -Wähler wünschen sich in der aktuellen profil-Umfrage von Unique research eine Rückkehr von Sebastian Kurz in die österreichische Innenpolitik. Ein Viertel würde das Comeback sogar dann begrüßen, wenn die Verfahren nicht mit einem Freispruch enden. Nur ein Viertel der ÖVP-Wählerschaft lehnt die Rückkehr des Ex-Kanzlers ab. Mit ihrer Begeisterung für Kurz stehten die türkisen Anhänger allerdings ziemlich einsam da. In der Gesamtbevölkerung wollen 70 Prozent der Befragten Sebastian Kurz nicht mehr in der Innenpolitik sehen. 

Schwungverlust

In der ÖVP war es noch jedem Obmann vergönnt, eine Nationalratswahl zu verlieren, außer Reinhold Mitterlehner, der einer Niederlage zuvorkam, indem er vorab zurücktrat. Daher wird auch Nehammer nächstes Jahr Spitzenkandidat sein. Der „Koarl“ ist in der Partei nach wie vor sehr beliebt. 

Sollte die Wahl schiefgehen, wird sich die ÖVP einen neuen Chef suchen. Landet sie in der Opposition, wird es aber kaum freiwillige Meldungen geben. Als eine Kandidatin gilt seit Langem Verfassungsministerin Karoline Edtstadler. In jüngster Zeit wird auch Finanzminister Magnus Brunner als potenzieller Parteichef gehandelt.

Aus der ÖVP ist zu hören, dass Nehammer langsam beginne, sich auf seinen engsten Kreis zurückzuziehen. Was ihm derzeit mit Sicherheit fehlt, ist Fortune. Im September startete Nehammer mit großem Pomp seine „Glaub-an-Österreich“-Initiative, um Schwung für die Herbstarbeit zu holen. Doch das Video mit einem Auftritt Nehammers im Juli in einer Weinbar in Hallein stach die Kampagne ab. In der Aufnahme räsoniert Nehammer über Kinderarmut („Ein McDonalds-Burger ist die billigste warme Mahlzeit“) und Frauen in Teilzeitbeschäftigung. 

Die ÖVP-Parteizentrale hatte die Wirkung des Videos unterschätzt. Um den Schaden wieder gut zu machen, lud Nehammer vorvergangene Woche Vertreter von karitativen Organisationen zur Aussprache in ein Gasthaus im 15. Wiener Gemeindebezirk.

Sebastian Kurz wäre so ein Malheur nicht passiert, meinen einige in der Volkspartei. Dieser hatte nach dem Prinzip der berühmt-berüchtigten Messsage-Control stets penibel darauf geachtet, welche seiner Aussagen wie öffentlich transportiert werden. 

Mit seinem Auftritt vor Gericht war Kurz vergangene Woche abermals medial präsenter als sein Nachfolger Nehammer, aber wohl zum ersten Mal unfreiwillig.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.

Max Miller

Max Miller

ist seit Mai 2023 Innenpolitik-Redakteur bei profil. Hat ein Faible für visuelle Kommunikation, schaut aufs große Ganze und kritzelt gerne. Zuvor war er bei der "Kleinen Zeitung".