Jugendkriminalität: Innenministerium plant Abschiebung von „Systemsprengern“
Es ist Mittwoch, der 8. Oktober, kurz nach vier Uhr früh. Die Wiedner Hauptstraße im 4. Bezirk ist noch leer, als drei Jugendliche auftauchen. Kappen tief ins Gesicht gezogen, dunkle Jacken, Hände in den Taschen. Sie wissen genau, was sie vorhaben. Mit einem Brecheisen öffnen sie das heruntergelassene Rolltor eines Massagesalons und entnehmen 350 Euro aus der Kassa. Nur wenige Meter weiter zerschlagen sie die Glastür einer Wäscherei und entwenden rund 600 Euro. Die Tat wirkt geplant und routiniert. Die Polizei ahnt zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass zumindest einer der Jugendlichen längst kein Unbekannter ist.
Überwachungsvideos liefern den Beamten schnell ein klares Bild der Bande. Im Frühjahr bezeichnete Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) einen von ihnen als „Systemsprenger“ – der sich jeder Kontrolle entzieht und die Grenzen staatlicher Prävention austestet. Das löste eine Debatte über „gefängnisähnliche Einrichtungen“ für besonders straffällige Jugendliche aus. Einer von ihnen ist der 14-jährige Silvio. profil berichtete in eine Coverstory über ihn und seinen älteren Bruder Samuel (16), die eigentlich anders heißen. Zusammen wurden sie im vergangenen Jahr über 2200 Mal angezeigt, Silvio hat bisher rund 1500 Einbrüche verübt, die meisten noch vor seinem 14. Geburtstag, damals strafrechtlich unbehelligt. Kurz nach seinem Geburtstag kommt er das erste Mal ins Gefängnis. Die Polizei hatte diesen Moment abgewartet, um eingreifen zu können: Am 28. März hatte er gemeinsam mit Freunden einen roten Toyota gestohlen und auf einer nächtlichen Fahrt durch Wien komplett zu Schrott gefahren. Vor Gericht entschuldigt sich Silvio mehrmals, er werde sich ändern, verspricht er der Richterin. Ende Juli wird er unter Auflagen entlassen: regelmäßiger Schulbesuch, Termine bei der Bewährungshilfe, Betreuung durch das Krisenzentrum sind Pflicht. Doch die Einhaltung bleibt lückenhaft. Immer wieder fehlt Silvio in der Schule, über die Jahre hat er mehr als 300 Fehlstunden gesammelt, die Termine mit seinem Bewährungshelfer versäumt er, dem Krisenzentrum bleibt er oft Tage fern.
Präzedenzfall in Österreich
Mit dem erneuten Einbruch drohen Silvio nun gravierende Konsequenzen. Laut profil-Informationen liegen im Innenministerium konkrete Pläne vor, seinen Aufenthaltstitel abzuerkennen. Silvio verfügt über eine Rot-Weiß-Rot-Karte und besitzt die serbische Staatsbürgerschaft. Laut profil-Informationen arbeitet das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) bereits an einem Bescheid für eine Rückkehrentscheidung, dieser soll heuer noch fertiggestellt werden. Damit würde ihm in weiterer Folge die Abschiebung drohen, ein Vorgang, der in Österreich bei minderjährigen Straftätern bisher noch nie durchgeführt wurde. Würde das Verfahren tatsächlich eingeleitet, wäre es ein Präzedenzfall – und eine Entscheidung mit erheblicher politischer Sprengkraft. Der Fall Tina, jene georgische Schülerin, die im Jänner 2021 abgeschoben wurde, zeigt, wie streng die Gerichte damals abwägen mussten. Das Bundesverwaltungsgericht erklärte Tinas Abschiebung im August 2022 für rechtswidrig. Als Begründung führte es unter anderem Tinas Geburt und ihren langen Aufenthalt in Österreich sowie ihre „hervorragende, auch schulische Integration“ an. Auch die Trennung der Familie sei nicht zulässig gewesen, sodass die Abschiebung der Mutter und der damals sechsjährigen Schwester ebenfalls rechtswidrig war.
Bei Silvio fällt die rechtliche Einschätzung anders aus: Zwar ist auch er in Österreich geboren, seine wiederholten Straftaten und die mangelhafte schulische Leistung lassen eine gelungene Integration nach Ansicht der Behörden nicht erkennen. Seine Mutter lebt in Wien, sie hat jedoch nicht die Obsorge über ihn. Sein Vater wurde bereits abgeschoben.
Sein älterer Bruder Samuel, 16, ist ebenfalls betroffen. Er besitzt einen EU-Daueraufenthalt, der ihm ein sichereres Aufenthaltsrecht verschafft. Rechtlich gesehen gewährt ein EU-Daueraufenthalt weitreichende Rechte, wie etwa den Schutz vor willkürlicher Ausweisung. Eine Aberkennung des Aufenthaltsrechts wäre in seinem Fall deutlich komplizierter als bei Silvio. Beide Brüder gelten als zentrale Figuren in der hohen Zahl minderjähriger Straftaten in Österreich.
„Verlagerung des Problems“
Bewährungseinrichtungen wie der Verein Neustart warnen vor einem rein repressiven Ansatz. Leiter Nikolaus Tsekas sagt, dass Jugendliche, die straffällig geworden sind, eine „langfristige Betreuung“ benötigen, um sich mit ihrem „delikthaften Verhalten auseinander zu setzen und neue Perspektiven für ein Leben ohne Kriminalität zu erarbeiten“. Diese würde bei Jugendlichen mindestens zwischen drei und fünf Jahren dauern, sagt Tsekas. „Wichtig ist der sogenannte ‚lange Atmen‘, da nicht davon auszugehen ist, dass eine Verhaltensveränderung schnell und unmittelbar wirken kann. Eine Abschiebung in ein anderes Land, wo der Jugendliche keine Bindung und Andockmöglichkeit findet, verlagert einerseits das Problem und schafft nicht mehr Sicherheit, außer dass die Gefahr groß wäre, ein Leben im Underground und der Illegalität zu fördern.“
Im Fall der Brüder kämen eigentlich die Großeltern in Serbien als Obsorgeberechtigte infrage. Gespräche mit ihnen verliefen jedoch ergebnislos, sie lehnten die Übernahme der Obsorge ab. Nun wird laut Ermittlern geprüft, ob staatliche Einrichtungen in Serbien einspringen könnten. Derzeit liegt die Obsorge bei der Wiener Kinder- und Jugendhilfe, MA 11. Auf Nachfrage bei der MA 11 heißt es, dass derzeit keine Informationen über eine Aberkennung des Aufenthalts oder einer Abschiebung des Brüderpaares vorliegen. Beide Brüder befinden sich aktuell in Untersuchungshaft.