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Roter Kanzler in Berlin. Und in Wien?

Was die SPÖ von der SPD lernen kann, um Sebastian Kurz zu besiegen. Warum Christian Lindner eher nicht mit Beate Meinl-Reisinger koalieren würde. Und wie aus Revolutionären Bürgermeister werden.

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In Deutschland erreichten die Volksparteien CDU und SPD, die alle Gesellschaftsschichten repräsentieren wollen, jeweils noch ein Viertel der Bürgerinnen und Bürger. Gemeinsam haben Schwarz und Rot nur eine knappe Mehrheit im Bundestag. Aus dem österreichischen Beispiel hätten Christ- und Sozialdemokraten wissen müssen: Große Koalitionen altern schneller und hören irgendwann zwangsläufig auf, groß zu sein; und Volksparteien hören auf, Volksparteien zu sein.  

Bemerkenswert am deutschen Ergebnis ist ein Wählerstrom: Zwei Millionen Stimmen wechselten von der CDU zur SPD. Die SPÖ denkt noch immer, sie müsste sich mit den Grünen matchen. Für eine Mehrheit jenseits von Sebastian Kurz wird das nicht genügen. Die SPÖ braucht Stimmen aus rechten Reservoirs. Zusätzlich muss sie auf einen Fehler von Kurz hoffen, da sie aus eigener Kraft die Wende nicht schafft. Angela Merkel hat einen solchen Fehler begangen, indem sie ihre Nachfolge nicht rechtzeitig organisierte. Nun wird der nächste Kanzler in Berlin wahrscheinlich rot sein. 

It’s the Klimaschutz!

Die Grünen erreichten in Deutschland 15 Prozent, in Oberösterreich 12 Prozent und in Graz 17 Prozent. Die Partei steht inhaltlich wieder an ihrer Wiege, der Ökologie. Der Einsatz für Minderheiten, Asylwerber und Migranten ist ehrenvoll, aber 2021 kein Stimmenbringer. It's the Klimaschutz! 

FDP und Neos sind Mitglied der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa. Dabei sind die zwei Parteien doch sehr unterschiedlich. FDP-Chef Christian Lindner wünscht sich eine Koalition mit der CDU. Beate Meinl-Reisinger schließt eine Kooperation mit der ÖVP aus. Was FDP und Neos vereint, sind anspruchsvolle Wähler, die immer aufs Neue gewonnen werden wollen. Im Jahr 2013 flog die FDP sogar aus dem Parlament. Bei den Neos muss das Ergebnis in Oberösterreich (nur vier Prozent) pinken Alarm auslösen. Der FDP gelang in der Pandemie die schwere Übung, sich glaubhaft für Bürgerrechte stark zu machen und gleichzeitig notwendige Einschränkungen der Freiheit mitzutragen; den Neos nicht. 

Früher war die FPÖ die Partei, die von der Abkehr der Wähler von den großen Volksparteien profitierte. Sie prahlte damit, keine „Systempartei“ zu sein. In Ostdeutschland buhlten auf diese Art AfD und Linke um Wähler. Beide verloren am Sonntag Stimmen. In Oberösterreich war es die Impfskeptiker-Partei MFG, in Graz die KPÖ, die Proteststimmen einsammelten. Einst waren Kommunisten Revolutionäre, heute sind sie Bürgermeister. Und auch die Liste MFG lernte am Wochenende, dass von unserem System auch Systemgegner profitieren. Das nennt man Demokratie – die nicht immer leicht auszuhalten ist.  

Gernot Bauer

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Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.