Ukrainische Soldaten sammeln nach einem Gefecht mit russischen Angreifern in der ukrainischen Hauptstadt Kiew am Morgen des 26. Februar 2022 nicht explodierte Granaten ein.
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Putins Sündenregister, Europas Versäumnis

Seit vielen Jahren tritt Russlands Präsident Wladimir Putin Frieden, Völkerrecht und Menschenrechte offen mit Füßen. Statt ihn in die Schranken zu weisen, hat sich Europa von ihm abhängig gemacht.

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Die vergangene Woche hat uns bei profil wieder einmal auf die harte Tour die Kurzlebigkeit des Nachrichtengeschäfts vor Augen geführt. Zu Wochenbeginn veröffentlichten mein Kollege Michael Nikbakhsh und ich österreichische Erkenntnisse zu einem aufsehenerregenden Leak von Bankdaten: Unter dem Projektnamen „Suisse Secrets“ hatten 48 Medien rund um den Globus unter Leitung der „Süddeutschen Zeitung“ und des Investigativ-Netzwerks OCCRP Kontodaten von Kunden der Schweizer Großbank Credit Suisse unter die Lupe genommen. Unter den etwa 30.000 Namen: Menschenhändler, Drogenbarone, Waffenschieber, Spione und korrupte Politiker.

Wir berichteten – bedingt durch den international abgestimmten Veröffentlichungstermin – zunächst nur im Internet. Während wir noch überlegten, wie wir die Affäre auch für die folgende Print-Ausgabe aufbereiten könnten, passierten knapp nacheinander zwei Dinge: Zunächst ließ Russlands Präsident Wladimir Putin seine Truppen in der Ukraine einmarschieren. Dann gingen uns die – insgesamt rund 220 Seiten umfassenden – Einvernahmeprotokolle von Sabine Beinschab zu. Das ist jene Meinungsforscherin, die – gemäß  Verdachtslage – zugunsten einer ÖVP-Clique um Sebastian Kurz Polit-Umfragen auf Kosten des Finanzministeriums durchgeführt hat. Dieser Vorwurf führte im Vorjahr bekanntlich zu Hausdurchsuchungen im Kanzleramt und in der ÖVP-Zentrale – und letztlich zum Rückzug von Sebastian Kurz. Kurz bestreitet sämtliche Vorwürfe.

Die Beinschab-Protokolle

In ihrer Befragung durch die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft legte Beinschab, die offenbar eine Kronzeuginnenregelung anstrebt, faktisch ein Geständnis ab. Die Meinungsforscherin erzählte aber auch, dass das – mutmaßlich verbotene - Umfrage-System viel länger gelaufen sei, als bisher bekannt. Nämlich bis zur Razzia im Oktober 2021. Für alle Betroffenen gilt – bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung - in vollem Umfang die Unschuldsvermutung. Nichtsdestoweniger waren uns die spektakulären Aussagen eine rasche und ausführliche Berichterstattung wert.

Schweren Herzens mussten die „Suisse Secrets“ pausieren. Auch, weil – über die Beinschab-Affäre hinaus – der russische Krieg in der Ukraine zum bestimmenden Thema der Woche wurde. Dass Putin das Nachbarland praktisch überrollt, hatten selbst Pessimisten nicht erwartet. Aber warum eigentlich nicht? Putin hat über Jahre hinweg demonstriert, dass er sich um Frieden, Völkerrecht und Menschenrechte nicht im Geringsten schert. Das Sündenregister Russlands unter seinem autoritär agierenden Langzeit-Machthaber ist durchaus umfangreich: Da wären etwas die Annexion der Krim im Jahr 2014, die jahrelange Unterstützung des Assad-Regimes im syrischen Bürgerkrieg und der Einmarsch in Georgien im Kaukasuskrieg 2008 (Putin war damals übrigens nicht Präsident, sondern zwischenzeitig Ministerpräsident).

Polonium, Nowitschok und „ausländische Agenten“

Dazu kommen die zahlreichen Grenzüberschreitungen anderer Art, die zwar immer abgestritten wurden, aber letztlich doch der Führung in Moskau zuschreibbar sind, wie etwa die Vergiftung von Abtrünnigen und Kritikern – teilweise im Ausland: Alexander Litwinenko (2006 – mit radioaktivem Polonium), Sergej Skripal (2018 – mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok) und Alexei Nawalny (2020 – ebenfalls mit Nowitschok). Skripal und Nawalny überlebten, Letzterer nur, um auf Basis fragwürdiger Vorwürfe verurteilt und eingesperrt zu werden. Fast schon nebenbei soll Russland versucht haben, die amerikanischen Wahlen im Jahr 2016, aus denen letztlich Donald Trump als Sieger hervorging, zu beeinflussen.

Ohne nennenswerten Protest aus dem Westen hat Putin in den vergangenen Jahren zudem Vertreter der kritischen Zivilgesellschaft gezielt und massiv geschwächt. Unliebsame Organisationen – darunter auch investigative Medien – wurden plötzlich zu „ausländischen Agenten“ erklärt. All das stärkte seine Macht. Viele im Westen haben dabei zugeschaut wie bei einem mittelmäßigen James-Bond-Film aus der Zeit des Kalten Kriegs. Nun wundert man sich, dass man dem Rüpel, der längst keinen guten Ruf mehr zu verlieren hat, nicht Herr wird.

Hat man die vielen Zeichen nicht erkannt – oder wurden sie ignoriert? Vor allem Mitteleuropa hat sich ohne größere Gegenwehr zunehmend von Russland – konkret vom russischen Erdgas – abhängig gemacht. Dazu kamen reizvolle Aufträge für Unternehmen, ungeahnte Geschäftschancen für Banken und Jobs für Politiker, die im Ausgedinge kein Problem damit hatten, als Lobbyisten oder einfach auch nur als Feigenblätter herzuhalten. Die rechtzeitige Beendigung – oder zumindest Reduktion – dieser Abhängigkeit ist ein großes Versäumnis und gleichzeitig eine dringende Zukunftsaufgabe. Die Frage, wie man Putin stoppen kann, ist viel zu lange unbeantwortet geblieben. Auch, weil es keine einfache oder gar bequeme Antwort darauf gibt.

Starten Sie trotzdem gut in die neue Woche!

Stefan Melichar

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Stefan   Melichar

Stefan Melichar

ist Chefreporter bei profil. Der Investigativ- und Wirtschaftsjournalist ist Mitglied beim International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ).