Wie günstig eine Jobgarantie ist und warum Österreich sie sich spart
Die Wirtschaft strauchelt, die Arbeitslosigkeit steigt – und immer mehr Menschen finden auch über lange Zeit keinen Job. Doch es gibt erprobte und überraschend günstige Ansätze.
Das „Schuhhaus Blaha“ ist ein historischer Ort. Im Jahr 1900 eröffnete der kleine Familienbetrieb am Hauptplatz von Gramatneusiedl im niederösterreichischen Industrieviertel, heute mit dem Zug eine Viertelstunde vom Wiener Hauptbahnhof entfernt. Das Geschäft überlebte die Weltwirtschaftskrise und zwei Weltkriege. Doch mit dem Onlinehandel konnte es nicht mithalten. „Ab 2015 wurde es schwierig“, sagt Karl Blaha, dessen Urgroßvater den Familienbetrieb gegründet hatte. Manche Kundinnen seien nur noch gekommen, um die richtige Schuhgröße für ihre Bestellung im Internet zu finden. Heute sind die Schuhregale leer. Nach dem Tod seiner Mutter schloss Blaha 2019 das Geschäft für immer und wurde arbeitslos.
Im Juli haben österreichweit 5,2 Prozent mehr Personen nach Arbeit gesucht als noch vor einem Jahr. Besonders rasant in die Höhe geht die Arbeitslosigkeit in den sonst starken Industriebundesländern Oberösterreich und Steiermark, vor allem in der Autozulieferindustrie. Im ersten Halbjahr 2025 stieg die Zahl der Arbeitslosen in diesem Sektor um fast 50 Prozent. Immer öfter finden Menschen auch nach über einem Jahr keinen Job. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen stieg im Jahresvergleich um fast zehn Prozent.
Wie schnell ein Ort vom Fabrikzentrum zur Industrieruine werden kann, erlebte Gramatneusiedl bereits vor knapp einem Jahrhundert: Rund 1300 Mitarbeiter beschäftigte die Textilfabrik Marienthal, als sie in Folge der Weltwirtschaftskrise 1930 schließen musste. Fast die Hälfte der 2900-Seelen-Gemeinde Gramatneusiedl wurde mit einem Schlag arbeitslos. Der Großteil blieb das auch. Die Soziologen Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel erforschten in der ehemaligen Arbeitersiedlung die Verhaltensänderungen der Langzeitarbeitslosen. Ihre 1933 veröffentlichten Erkenntnisse zählen zu den Standardwerken der Soziologie.
In der früheren Arbeitersiedlung Marienthal ist man auf diese Geschichte heute stolz: Einige übrig gebliebene Häuser wurden ein Freiluftmuseum, in dessen Erhalt die Gemeinde viel Geld steckt. Als Finanzminister Markus Marterbauer (SPÖ) und Niederösterreichs SPÖ-Chef Sven Hergovich vergangenen Montag nach Gramatneusiedl kommen, führt ihr Parteikollege, Bürgermeister Thomas Schwab, persönlich durch den Ort.
Marterbauer fühlt sich an seine Kindheit erinnert: Der Oberösterreicher wuchs in Laakirchen in einer Werkssiedlung auf – wobei Marterbauers Kindheit kaum mit jener der Arbeiter im 19. Jahrhundert vergleichbar war. Im Winter bildeten sich in Gramatneusiedl große Eisflächen um die wenigen kommunalen Brunnen, erzählt Schwab. Ein Bett in der Arbeitersiedlung sei nie kalt geworden, denn die bis zu acht Bewohner der 30-Quadratmeter-Wohnungen teilten sich je nach Schicht auch den Schlafplatz.
Bemalte Urnen
Auch Hergovich wird nostalgisch, wenn er durch das Marienthal schreitet. Immerhin war er es, der hier 2020 noch als niederösterreichischer AMS-Chef das Modellprojekt Arbeitsplatzgarantie Marienthal, kurz Magma, initiierte: Alle Langzeitarbeitslosen in der Gemeinde bekamen eine Jobgarantie. Entweder vermittelte das AMS die insgesamt 107 Personen an Betriebe und übernahm einen großen Teil der Lohnkosten, oder aber die ehemals Arbeitslosen fanden gemeinnützige Beschäftigung. Die größte Gruppe jätete etwa Unkraut an den Grünflächen der Gemeinden. Zwei Personen machten sich mit einem Geschäft für Geschenkverpackungen selbstständig. Und eine frühere Arbeitslose spezialisierte sich darauf, Urnen zu bemalen.
Auch Karl Blaha nahm an Magma teil. „Ich habe Deutschkurse für Syrer angeboten und die Geschichte der Gemeinde aufgearbeitet“, erzählt er auf einem Rollsessel auf der einstigen Verkaufsfläche seines Schuhgeschäfts: „Das Programm hat Leute wieder in die Arbeit gebracht. Das war ein Sprungbrett in die Wirtschaft.“ Auch für Blaha selbst. Bereits 2021 fand er wieder einen Job in der Privatwirtschaft – als Brandschutz- und Sicherheitsbeauftragter bei Logistics & Transport Europe (LTE), direkt beim Bahnhof Gramatneusiedl.
Sinkende Kosten
Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern im Marienthal ging es finanziell, sozial und gesundheitlich besser als den Langzeitarbeitslosen in Vergleichsgemeinden, zeigt die Begleitstudie. Und doch wurde das Projekt nicht großflächiger ausgerollt, sondern unter der nunmehr schwarz-blauen Landesregierung Anfang 2024 beendet. Offiziell aus Kostengründen. Immerhin hatte Magma insgesamt ein Budget von 7,4 Millionen Euro bei 107 Langzeitarbeitslosen.
Ein Argument, das Lukas Lehner, Ökonom an der Universität Oxford, aus seiner Evaluierung der Jobgarantie nicht nachvollziehen kann. Zwar kostete ein Langzeitarbeitsloser zu Beginn der Beschäftigungsgarantie in Gramatneusiedl den Staat deutlich mehr als in Vergleichsgemeinden, nach eineinhalb Jahren seien die laufenden Kosten aber bereits geringer gewesen – Tendenz weiter sinkend (siehe Grafik).
Über den gesamten Projektzeitraum kostete die Beschäftigungsgarantie um 28 Prozent mehr als für Langzeitarbeitslose normalerweise für Sozialleistungen und Beschäftigungsanreize ausgegeben wird. Allerdings: In dieser Rechnung sind für den Staatshaushalt positive Nebeneffekte der Beschäftigung wie zusätzliche Lohnsteuer und Sozialabgaben noch nicht berücksichtigt.
„Hätte Österreich bereits vor drei Jahren begonnen, dieses Programm stärker auszurollen, wäre der Konsolidierungsdruck heute etwas geringer“, sagt Lehner daher, als er seine neuen Ergebnisse dem Finanzminister präsentiert. Der muss dennoch abwinken: „Auf meinem Tisch liegen jede Menge guter Ideen, die zu Beginn Geld kosten und in vier, fünf Jahren Erträge bringen“, sagt Marterbauer: „Das ist unbefriedigend, aber wir können uns viele Projekte derzeit einfach nicht leisten.“ Umso mehr als viele Betriebe derzeit selbst in der Krise sind. Fehlen die Firmen, gibt es auch keine Arbeitsplätze, in die man Arbeitslose reintegrieren kann.
Zumindest 50 Millionen Euro sollten ab nächstem Jahr dennoch zur Verfügung stehen. Sie sind im schwarz-rot-pinken Regierungsprogramm als „Aktion 55 Plus“ vorgesehen und sollen „existenzsichernde soziale Arbeit für Langzeitarbeitslose“ garantieren. Werden sie für eine Beschäftigungsgarantie für ältere Langzeitarbeitslose verwendet?
50 Millionen für Ältere
AMS-Chef Johannes Kopf, der eine allgemeine Jobgarantie als zu teuer ansieht, könnte sie sich als gezielte Maßnahme vorstellen: „Wir haben Kundinnen und Kunden, die gesundheitlich so beeinträchtigt und vielleicht drei Jahre vor der Pension sind, wo es uns kaum gelingt, sie zu vermitteln“, sagte der AMS-Chef vergangenes Jahr gegenüber dem ORF: „Gerade für solche Menschen kann das durchaus etwas sein.“ Auch bei Magma hatte ein Drittel der Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Ende des Projekts keinen Job.
Die genaue Ausgestaltung der „Aktion 55 Plus“ plant Arbeitsministerin Korinna Schumann (SPÖ) derzeit gemeinsam mit dem AMS. Genauere Informationen würden im Herbst präsentiert, heißt es auf Anfrage. Das Regierungsprogramm nennt als Beispiel konkret „Seniorentaxis am Land“. Das Projekt in Gramatneusiedl lebte aber auch davon, dass die einstigen Arbeitslosen selbst sinnvolle gemeinnützige Beschäftigung fanden. Eine umfassende Jobgarantie sei aber aufgrund der hohen Investitionskosten zu Beginn auch für einzelne Altersgruppen oder Regionen „leider derzeit nicht realistisch“, weiß auch das Ressort von Arbeitsministerin Schumann.
Arbeitsmarktpolitik muss innovativ sein und sich einfach mal was trauen.
Markus Marterbauer
Finanzminister, SPÖ
Gäbe es Geld, wäre der Finanzminister für Experimente zu haben: „Arbeitsmarktpolitik muss innovativ sein und sich einfach mal was trauen“, sagt Marterbauer im Marienthal-Museum: „Dinge, die nicht funktionieren, macht man nicht mehr. Dinge, die gut funktionieren, versucht man weiterzuentwickeln.“ Besonders wichtig für den einstigen Chefökonom der Arbeiterkammer: die wissenschaftliche Begleitung, denn ohne sie „lernt man eigentlich nichts daraus“.
Nach dem Erfolg des österreichischen Pilotprojekts im Marienthal hat die EU einen eigenen Fördertopf für ähnliche Projekte eingerichtet. Das AMS Niederösterreich hat sich um ein solches bemüht: 32 Personen sollen dadurch in den Arbeitsmarkt reintegriert werden. Die teilnehmenden Betriebe zahlen nur den Mehrwert, den sie durch die Arbeitsleistung erhalten. Im September sollte über den Förderantrag entschieden sein.
Karl Blaha kann nicht verstehen, warum die Politik nicht stärker auf eine Beschäftigungsgarantie setzt: „Magma fehlt auf jeden Fall“, sagt der einstige Schuhhändler: „Statt Sozialleistungen haben wir ein Gehalt bekommen – und gesehen, was bei unserer Arbeit herauskommt.“
In der Auslage seines früheren Ladens bewirbt Blaha die Arbeit ehemaliger Arbeitsloser: Hochbeete, Grünraum-Bewirtschaftung und Upcycling-Möbel. Und „wenn der Schuh drückt“, so steht es auf der gläsernen Eingangstür, kann man nach wie vor Herrn Blaha persönlich anrufen.
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Max Miller
ist seit Mai 2023 Innenpolitik-Redakteur bei profil. Schaut aufs große Ganze, kritzelt gerne und mag Grafiken. War zuvor bei der „Kleinen Zeitung“.