Auf dem Bild befindet sich ein Mann, der mit der chemischen Substanz Chlordioxid hantiert
Bild anzeigen

Vom Windrad zur Weltverschwörung

Die Anti-Windkraft-Szene trifft sich in Niederösterreich ausgerechnet in einem Kulturzentrum, das vom Land gefördert wird. Beim Stammtisch werden nicht nur Falschinfos über Windenergie verbreitet, sondern auch Tipps zum Mixen von Chlordioxid gegeben.

Drucken

Schriftgröße

Normalerweise werden im niederösterreichischen Pleyel Kulturzentrum Violinen, Klarinetten, Klaviere oder Fagotte angestimmt. Der moderne quaderförmige Bau oberhalb von Ruppersthal im Weinviertel ist dem weltbekannten Komponisten und Klavierbauer Ignaz Pleyel gewidmet. Knapp 40 Veranstaltungen finden hier jährlich statt. Der Anti-Windkraft-Stammtisch zählt nicht zum Jahresprogramm. Denn er findet außerhalb der regulären Öffnungszeiten statt, seit zwei Jahren trifft man sich in den Räumlichkeiten der Ignaz Pleyel Gesellschaft. Auch am letzten Dienstag im August. Die Themen: „Energiewende: eine windige Ideologie“ und „Chlordioxid (CDS), Herstellung und Nutzung“. Was harmlos beginnt, soll sich in dreieinhalb Stunden zu einem Abend voller Verschwörungen auswachsen.

Es ist kurz vor 18 Uhr, einige der rund 20 Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieses Anti-Windkraft-Stammtisches stärken sich noch am Buffet des Kulturzentrums. Bei belegten Broten, Bier und Wein besprechen einige Interessierte, warum ihnen die „Normalmedien“ Inhalte wie die des Vortrags verschweigen. Ob Medienschaffende denn nicht frei entscheiden dürfen, was sie berichten. Über die Rolle der Medien wird es an diesem Abend noch öfter gehen. Und auch die Feindbilder werden vor dem Vortrag klar benannt: „Eigentlich müssten sich der Pernkopf (LH-Stellvertreter Stephan Pernkopf von der ÖVP; Anm) und die Gewessler (Ex-Klimaschutzministerin und Grünenchefin Leonore Gewessler; Anm.) das auch anhören“, so eine Teilnehmerin. Denn „in Niederösterreich sollen weitere 200 Windräder gebaut werden, dabei haben wir schon 860. Wir wollen das nicht“, sagt eine andere Besucherin dieses Stammtisches.

Auf dem Bild sieht man die Außenansicht eines Kulturzentrums in Niederösterreich
Bild anzeigen

Stammtisch im Pleyelzentrum

Seit zwei Jahren trifft sich Angelika Starkls Anti-Windkraft-Stammtisch im Pleyelzentrum im niederösterreichischen Ruppersthal.

Zehn Minuten später ist es so weit. Organisatorin Angelika Starkl läutet die Glocke, bittet damit um Ruhe. Seit Jahren versucht Starkl Windkraftgegner österreichweit zusammenzubringen, im Vorjahr etwa bei einem Treffen in der Nähe von Tulln. Den rechten Rand und Verschwörungserzählungen scheut sie dabei nicht, auch am Dienstag vor einer Woche nicht: „Wir möchten unseren Stammtisch ein bisschen öffnen“, erklärt Starkl, warum heute neben dem Energiewende-Vortrag auch Chlordioxid am Programm steht. Denn „wenn es um nur Windkraft geht, kommen immer dieselben und mit einem zweiten Thema erreichen wir vielleicht weitere, jüngere, die auch interessiert sind.“ Manche Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Stammtisches haben bereits von Chlordioxid gehört, „mal schauen, ob´s interessant ist, wenn nicht, geh ich halt wieder“, sagt eine Teilnehmerin zu profil. Sie wird die Veranstaltung nicht vorzeitig verlassen. Und auch sonst niemand der Anwesenden.

Der Vortragende, ein ehemaliger Mitarbeiter des Hochspannungsnetzbetreibers Austria Power Grid (APG), kommt gleich zur Sache: Die Regierung würde verschweigen, dass nicht bloß 1150 Windräder bis 2030 geplant sind, sondern in Wahrheit seien es rund 17.000. Das habe der Vortragende selbst berechnet. Auf 17.000 kommt er, weil man viel mehr „grüngewaschenen“ Strom erzeugen und diesen für mehrwöchige Dunkelflauten speichern müsse. Parallel dazu brauche es laut dem Vortragenden 13 herkömmliche Kraftwerke der Kategorie Dürnrohr – ein 2019 stillgelegtes Kohlekraftwerk. Ein genauer Blick auf die Folien zeigt jedoch, dass sich der Elektrotechniker im Vorruhestand seine Realität selbst zimmert. Denn bei den Kosten der Stromentstehung und Speicherung geht er von Werten einer Fraunhofer Studie aus dem Jahr 2010 aus. Technisch sind diese Erkenntnisse längst überholt, eine neuere Studie aus dem Vorjahr geht von gänzlich anderen Zahlen aus.

Es ist ein Muster, dass sich durch den ganzen Vortrag zieht: Geht es etwa um China, dann wird ausschließlich der Bau neuer Kohlekraftwerke betont. Dass das Land den eigenen Ausbauplan von Photovoltaikanlagen um fünf Jahre unterboten hat, lässt der Vortragende unerwähnt.

Windbremse: Österreich werde „Wüstenlandschaft“

Der Vortragende, der nicht in der Öffentlichkeit steht und deshalb von profil anonymisiert wird, versteht es, jede kleine Schwäche der Windkraft zu einem angeblich bedrohlichen Problem aufzublasen. Beispiel „Windbremse“: Baut man zu viele Windräder auf engem Raum, nehmen sich die Anlagen gegenseitig den Wind weg. Tatsächlich ist das Phänomen (Wake-Effect; Anm.) bekannt und erforscht. Windparks beeinflussen Luftströme, die Effekte sind aber lokal begrenzt und bewegen sich in sehr kleinen Größenordnungen. Den Vortragenden hindert das aber nicht, diese geringen Leistungseinbußen auf die angeblich geplanten 17.000 Windräder hochzurechnen – Rechenfehler inklusive. Seine Berechnungen würden aber nicht nur weniger Wind, sondern auch weniger Niederschlag bedeuten. Und zwar bedeutend weniger. Österreich werde dadurch zur Wüstenlandschaft und weil das Regenwasser ausbleibe, würde sich auch die Energieerzeugung aus Wasserkraft reduzieren. Belege für solche Szenarien gibt es nicht. Abgesehen davon sind in Österreich auch nicht 17.000 Windräder geplant.

Spätestens ab dem Moment, als der Vortragende erklärt, dass die von der Menschheit ausgestoßenen CO2-Emissionen nichts mit der Erderhitzung zu tun hätten, kommt kaum mehr ein Satz ohne Falschinformationen aus. Am Ende des Vortrags geht es um bekannte Fake News zur Windkraft, die auch von profil schon mehrfach richtiggestellt wurden: Stichwort Balsaholz, Infraschall oder die Verschmutzung des Trinkwassers.

Die Zuhörerinnen und Zuhörer sind begeistert. Ob er diese Inhalte schon einmal der Presse (gemeint ist die Tageszeitung „Die Presse“; Anm.) geschickt habe, fragt ein Teilnehmer? Der Vortragende schmunzelt: „Da kann ich mich gleich an die Wand stellen“, sagt er. „Wir haben heute eh jemanden vom profil da“, sagt Gastgeberin Starkl. „Naja, das dürfens ja ned schreiben“, sagt ein anderer in Richtung des Reporters. „Schreibens einmal die Wahrheit“, raunt eine Teilnehmerin. Dann geht es in die Pause. Was danach folgen sollte, lässt den ersten Vortrag harmlos erscheinen.

Vom Strom zum „Allheilmittel“

„Ich habe mir damals den Andreas Kalcker auf Youtube angeschaut und mir die Inhaltsstoffe organisiert. Seit drei Jahren stelle ich das selbst her und nehme jeden Tag ein paar Tropfen“, sagt die Organisatorin des Abends. „Deshalb ist es mir so wichtig, dass wir heute darüber sprechen“, sagt Starkl und gibt das Wort an einen ehemaligen Elektrotechniker weiter. Er selbst sei ein „Schüler Kalckers“. Seit 2016 beschäftigt er sich laut eigenen Aussagen mit Chlordioxid, heute wird er den Anwesenden auch zeigen, wie man dieses ganz einfach zur oralen Verwendung selbst herstellt.

Was ist Chlordioxid? (CDL/CDS/MMS)

  • CDL/CDS (Chlordioxid-Lösung / Chlordioxid-Solution): Fertige, gelblich bis bräunliche wässrige Lösung des chemischen Gases Chlordioxid.
  • MMS („Miracle Mineral Supplement“): Pulverförmiges Natriumchlorit, das erst durch Zugabe einer Säure (z. B. Zitronensäure) aktiviert wird. Dabei entsteht Chlordioxid in Wasser. MMS selbst enthält noch kein Chlordioxid.

Medizinische Wirkung: Es gibt keine wissenschaftlichen Belege für die propagierten Heilwirkungen. Chlordioxid ist ein starkes Oxidationsmittel, das Schleimhäute, Magen, Rachen, Zähne und Lunge schädigen kann. Die Einnahme kann zu Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Verätzungen oder Vergiftungen führen.

Weil der erste Vortrag so lange gedauert hat, überspringt der Vortragende die historische Entwicklung der Substanz. Und auch zum vermeintlichen Mastermind Andreas Kalcker spart er wichtige Details aus. Kalcker, ein Deutscher mit Wohnsitz in der Schweiz, propagiert Chlordioxid als Heilmittel gegen COVID-19, Krebs, Autismus, Malaria, AIDS – eigentlich gegen jede Erkrankung. Wissenschaftlich belegt ist das nicht, stattdessen warnen zahlreiche Gesundheitsbehörden: „Für die behaupteten positiven Effekte von Chlordioxid gibt es keinerlei wissenschaftliche Belege, vielmehr handelt es sich um ein Gas, welches Verätzungen und Vergiftungssymptome hervorrufen kann“, sagt ein Sprecher des Bundesamts für Sicherheit im Gesundheitswesen auf profil-Nachfrage. Auch Kalckers rechtliche Probleme in mehreren Ländern erfahren die Anwesenden nicht: In Argentinien etwa wird seit 2020 gegen ihn ermittelt, nachdem ein fünfjähriger Junge nach der Einnahme von Chlordioxid gestorben ist.

Auf dem Bild befindet sich ein Mann, der erklärt, wie man Chlordioxid herstellt
Bild anzeigen

Anleitung zur Herstellung von Chlordioxid

Mehrfach erwähnt der Vortragende, dass er keine Haftung für etwaige gesundheitliche Schäden übernehme. Das hält ihn nicht davon ab, detailreich zu erklären, wie Chlordioxid hergestellt wird. Und welche Fehler es zu vermeiden gilt, damit es nicht zu Verätzungen komme.

Wer während des Vortrags genau hinhört, merkt: Die Einnahme ist alles andere als harmlos. Zwar weist der Vortragende mehrfach auf einen Haftungsausschluss hin, gleichzeitig erklärt er detailreich, wie man die Substanz einnimmt – inklusive Ratschlägen für „Inkompetente Anwender“. „Eine Bekannte von mir ist Apothekerin, ihre Oma hat einmal zu viel genommen. Die hatte dann Verätzungen im Hals“, sagt er. Lebensgefährlich sei es auch, Dämpfe einzuatmen, und auch am Beginn der Einnahme sei eine behutsame Dosierung wichtig, da Übelkeit, Erbrechen oder Durchfall auftreten können. „Wenn man aber eine Krebsdiagnose hat und nur noch einen Monat zu leben, muss man gleich die volle Dosis geben“, fügt er hinzu. Nachsatz: „Entweder man überlebt es oder nicht.“

Skepsis kommt dennoch keine auf.

Und warum verschweigen die „Normalmedien“ das alles, wenn CDL das „Allheilmittel“ im Kampf gegen jede Krankheit sei, möchte ein Anwesender wissen? „Weil man diese chemische Verbindung nicht patentieren lassen kann, dadurch kann die WHO kein Geld verdienen und deshalb macht man das nicht“, so der Vortragende. Und: die Medien seien alle gesteuert und würden diktiert bekommen, was sie schreiben dürfen und was nicht, erklärt der Vortragende mit Verweis auf die Folie „Medienkompetenz“. Auch der anwesende profil-Reporter dürfe nicht über die „wahren“ Inhalte dieses Abends berichten, „das wird Ihnen der Chef bestimmt rausstreichen“, sagt eine Anwesende. 

Auf dem Bild befindet sich eine abfotografierte Power-Point-Folie
Bild anzeigen

Die Rolle der Medien

Die (nicht nachgewiesene) Allheilwirkung von Chlordioxid werde von den „Normalmedien verschwiegen, so der Vortragende. Denn: Was berichtet wird und was nicht entscheide die WHO, die Nato, die „Atlantikbrücke“. Die „Wahrheit“ hingegen erfahre man eher in ausgewählten Telegram-Gruppen.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind für etablierte Medien längst nicht mehr zugänglich. Auf die „Wahrheit“ und wo man sie findet, wird mehrfach verwiesen, etwa auf den Telegram-Kanal des Vortragenden oder auf die verschwörungstheoretischen Rechtsaußenmedien „AUF1“ und „Report24“, wo auch Starkl als Gastkommentatorin auftritt.

Nicht mehr auftreten wird Starkl in Ruppersthal. 

Die Ignaz Pleyel Gesellschaft (IPG), die 2022 und 2023 insgesamt 158.000 Euro Fördergelder vom Land Niederösterreich erhalten hat, gemeinsam mit ihrer Ehrenpräsidentin, Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP), betonen in einer Stellungnahme: „Wir waren nicht in die Organisation eingebunden. Die Inhalte dieser Veranstaltung waren für uns nicht vorhersehbar und hätten niemals gebilligt werden können. Wir verurteilen sie entschieden und stellen klar, dass das Pleyel Kulturzentrum sowie die IPG nicht mit diesen Positionen in Verbindung gebracht werden dürfen.“ 

Auf Rückfrage betont Mikl-Leitners Sprecher, dass sich der Stammtisch im Pleyelzentrum nicht mehr treffen werde. Künftig sollen dort also wieder vorrangig Violinen, Klarinetten, Klaviere oder Fagotte angestimmt werden.

Julian Kern

Julian Kern

ist seit März 2024 im Online-Ressort bei profil und Teil des faktiv-Teams. War zuvor im Wirtschaftsressort der „Wiener Zeitung“.