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Immunschwäche: Schwere Covid-Erkrankungen trotz vollständiger Impfung

Aktuelle Fallberichte und Studien klingen beunruhigend: Menschen erkranken trotz vollständiger Impfung an Covid-19, mitunter sehr schwer.

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Die Nachricht ereilte Robert R. am Dienstag voriger Woche: Da erfuhr der Wiener Angestellte, dass sein Vater soeben verstorben war. Zehn Tage zuvor hatte sich der 86-Jährige aufgrund von Atemnot in Spitalsbehandlung begeben.

Angesichts der Symptomatik führten die Ärzte in dem niederösterreichischen Krankenhaus einen Covid-Test durch. Ergebnis: positiv. Für kurze Zeit sah es aus, als würde sich der Patient rasch erholen – doch dann, eigentlich unerwartet, verschlechterte sich der Zustand zusehends. Alle Bemühungen der Mediziner schlugen fehl.

Es handelt sich nicht bloß um ein weiteres beklagenswertes Opfer der Pandemie. An dem Fall ist ein Umstand auffällig, der durchaus Anlass zur Besorgnis gibt: Der Vater von Robert R. war geimpft. Er hatte bereits beide Dosen des BioNTech-Vakzins erhalten. Die zweite Teilimpfung lag zum Zeitpunkt der stationären Aufnahme etwa zwei Wochen zurück – lang genug, um einen Impfschutz aufzubauen. Doch genau der blieb aus: Zwei Tests im Spital konnten keine Antikörper nachweisen.

Nicht immer sind die Verläufe so dramatisch wie im Fall des Vaters von Robert R., doch es mehren sich Berichte von Personen, die trotz Impfung positiv auf das Coronavirus getestet werden oder an Covid erkranken. Er habe in seiner Ordination die „ersten beiden 80 plus mit vollständiger Immunisierung, die jetzt an Covid-19 symptomatisch erkrankt sind“, vermeldete ein Allgemeinmediziner vorige Woche. Von Klinikärzten stammen ähnliche Fallgeschichten, darunter auch aus dem Wiener AKH.

Keine Impfung schützt zu 100 Prozent, es gibt immer Personen, bei denen der Impfschutz nicht greift. Im Fall der Covid-Vakzine kommt das eigentlich, dachte man, ziemlich selten vor: Alle momentan bei uns eingesetzten Impfstoffe – ob von BioNTech, Moderna oder AstraZeneca – sind sogar außergewöhnlich effektiv.

Bis zu 95 Prozent der Infektionen können verhindert werden, und vor allem die Zahl schwerer Verläufe lässt sich erheblich reduzieren. In Ländern mit hoher Impfrate wie Israel und Großbritannien lässt sich der Nutzen bereits messen: Es steht außer Zweifel, dass die Impfstrategien schon bisher Tausende von Menschenleben gerettet haben.

Zugleich zeigt sich aber, dass bei einem gewissen Teil der Bevölkerung kein ausreichender Impfschutz erzielt werden kann – und zwar ausgerechnet bei besonders gefährdeten Personen und zudem in einem Ausmaß, das den erwartbaren Anteil des Impfversagens deutlich übersteigt. Starke Indizien dafür liefert eine neue Studie von Virologen des Universitätsklinikums der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Zwar handelt es sich um eine noch nicht begutachtete Vorabveröffentlichung – eine derzeit übliche Publikationsmethode, um wichtige Forschungsdaten möglichst rasch zugänglich zu machen –, doch an den Resultaten ist kaum zu rütteln. Die deutschen Wissenschafter analysierten Blutproben von 176 Personen, 93 davon jünger als 60 Jahre, 83 älter als 80 Jahre. Alle hatten zwei Dosen des BioNTech-Impfstoffs erhalten. Die Forscher bestimmten sowohl nach der ersten als auch nach der zweiten Teilimpfung die Spiegel von IgG- sowie neutralisierenden Antikörpern.

Die Messergebnisse waren eher ernüchternd: Während die jüngeren Probanden solide Antikörper-Titer aufwiesen, sah die Situation bei den über 80-Jährigen anders aus: Mehr als 30 Prozent von ihnen hatten keine neutralisierenden Antikörper gebildet. Mit anderen Worten: Rund ein Drittel der Hochrisikogruppe hatte trotz zweifacher Impfung keinen messbaren Schutz. Zwar habe man nur die Effekte eines einzelnen Impfstoffes untersucht, sagt Ortwin Adams, einer der Studienautoren und Leiter der virologischen Diagnostik in Düsseldorf. Doch wenig spreche dafür, dass Impfungen mit anderen Präparaten andere Resultate erbracht hätten.

Denn das Problem scheint weder der konkrete Impfstoff noch eine der neuen Virusvarianten zu sein. Vielmehr kommt ein Phänomen namens „Immunoseneszenz“ zum Tragen: Mit zunehmendem Alter lässt die Reaktionsfähigkeit des Immunsystems nach. Ältere Personen können Infektionen schlechter abwehren und bauen auch weniger zuverlässig einen Schutz durch Impfungen auf.

Die Düsseldorfer Forscher untersuchten zwar nur einen Teilbereich des Immunsystems. Denn zusätzlich zu Antikörpern gibt es die zelluläre Abwehr, vor allem in Form sogenannter T-Zellen. „Die zelluläre Immunität haben wir nicht gemessen, sondern nur die Antikörper“, sagt Professor Adams. „Allerdings korreliert üblicherweise beides.“ Das heißt, auch die zelluläre Immunantwort geht bei Senioren tendenziell zurück.

Diese Umstände sind im Grunde bekannt und auch nicht spezifisch für das Coronavirus – sie sind schlicht Begleiterscheinungen des Alters. Warum aber wurde bisher nicht auf dieses Problem hingewiesen? Vermutlich, weil in den Impfstofftests vor der Zulassung die über 80-Jährigen unterrepräsentiert waren beziehungsweise häufig alle 65- bis über 80-Jährigen in einer Personengruppe zusammengefasst wurden. Mit der Düsseldorfer Studie liegen nun erstmals „Real-Life“-Daten für diese spezifische Altersgruppe vor.

Robert R. hält es für „skandalös, dass nicht darüber aufgeklärt wird, dass bei alten Menschen der Immunschutz versagen kann“. Es gehe schließlich nicht darum, Panik zu schüren oder Impfungen für nutzlos zu erklären, sondern darauf hinzuweisen, dass trotzdem Vorsicht geboten ist und besonders hochbetagte Menschen die bisherigen Verhaltensregeln unbedingt weiterhin einhalten sollten. Denn wenn ältere Menschen – im Vertrauen darauf, nach den Impfungen geschützt und außer Gefahr zu sein – wieder ihr Sozialleben aufnehmen, kann das mitunter böse Folgen haben.

Virologe Adams sieht das prinzipiell ähnlich: „Es geht auf keinen Fall darum, die Impfung schlechtzureden. Es sprechen ja die Erfahrungen aus allen Ländern mit hoher Impfrate dafür, dass dadurch schwere Verläufe und Todesfälle stark zurückgehen. Aber man muss wissen, dass man sich womöglich trotz Impfung infizieren kann.“

Weiters sei die Frage, welche Schlüsse die neuen Daten für die Zukunft nahelegen. Eine Folgerung könnte lauten, so Adams: Schon im Herbst brauchen wir vermutlich eine dritte Impfung, und neuerlich wäre es angezeigt, die Senioren zu priorisieren, da eben ein nennenswerter Prozentsatz von ihnen bisher nicht genügend immunisiert werden konnte. Wäre es eventuell auch sinnvoll, nach den derzeitigen Impfungen Antikörper-Titer zu messen, um den Grad der Schutzwirkung zu ermitteln?

Nicht unbedingt, meint der Virologe. Denn selbst wenn ausreichend Laborkapazitäten verfügbar wären, gibt es keine klaren Grenzwerte, die anzeigen, ab wann ausreichend Immunschutz gewährleistet ist. Auch Impfreaktionen wie Fieber oder Schüttelfrost, bei älteren Menschen ohnehin extrem selten, sind leider kein brauchbarer Indikator: Es sei ein Irrglaube, dass ein paar miese Tage nach der Impfung auf ein ordentlich hochgefahrenes Immunsystem hindeuten. So bleiben vorerst die bekannten Maßnahmen: Abstand halten, Masken tragen, Kontakte einschränken – auch bei bereits Geimpften in höherem Alter.

Politisch relevant ist eine weitere Beobachtung aus der Studie: Bei den jüngeren Personen schossen die Antikörper nach der zweiten Dosis zwar stark nach oben, nach der ersten aber noch nicht unbedingt. Das stellt vor allem die immer wieder geäußerte Idee infrage, die Intervalle zwischen den Teilimpfungen auszudehnen oder sich vorläufig überhaupt nur auf einen Shot zu konzentrieren. Die Autoren schreiben in der Studie: „Wir meinen, dass eine Verschiebung einer zweiten Impfung weder für jüngere noch für ältere Bevölkerungsgruppen ratsam ist.“

Und das nicht nur wegen potenziell mangelnder Schutzwirkung: Gerät ein Virus durch eine medizinische Maßnahme unter Druck, ohne aber vollständig in Schach gehalten zu sein, startet ein evolutionäres Programm als einzige Gegenstrategie, zu der ein Virus fähig ist: Es verändert sich, um einer medizinischen Attacke zu entkommen. „Escape mutation“ heißt dies, und genau so entstand die britische Variante B.1.1.7. Mittlerweile liegt eine ganze Reihe von Studien vor, die die Wirksamkeit der verfügbaren Impfungen gegen mehrere Virusvarianten prüften.

Im Fachjournal „Cell“ erschien kürzlich ein Artikel, der die Effektivität der Vakzine von BioNTech und Moderna gegen zehn global kursierende Virusstränge beschrieb. Während sich die britische, eine dänische, eine kalifornische und weitere Varianten hinlänglich neutralisieren ließen, war dies bei der südafrikanischen Variante B.1.351 und bei der brasilianischen P.1 nicht ausreichend der Fall. Die Wissenschafter sprachen von einer „bemerkenswerten Resistenz“. Es sei zu erwarten, dass die „virale Evolution weitergehen“ werde. Tatsächlich trat erst kürzlich eine neue, bisher unbekannte Variante mit mehr als 30 Mutationen auf – das sind mehr als bei jeder anderen zuvor entdeckten.

Sehr ähnlich klingt die Einschätzung von US-Forschern, die bei diesen beiden Varianten nicht nur einen eingeschränkten Impfschutz, sondern auch eine verminderte Wirkung therapeutischer Maßnahmen wie monoklonaler Antikörper oder Rekonvaleszenten-Plasma fanden. „Dieses Virus bewegt sich in eine Richtung, die letztlich in ein Entweichen aus unseren gegenwärtigen therapeutischen und prophylaktischen Maßnahmen führen könnte“, schlossen die Experten.

Besonders ermutigende Nachrichten sind das nicht. Letztlich bedeuten sie, dass wir uns von der Hoffnung, mit den gegenwärtig verfügbaren Impfungen Herdenimmunität erzielen und die Pandemie beenden zu können, wohl verabschieden müssen. Deutlich wahrscheinlicher sei, so der Virologe Adams: Es wird wie bei der saisonalen Grippe eine regelmäßige Auffrischung durch jeweils angepasste Impfstoffe brauchen.

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft