Ich war als Ungeborene im Bauch meiner Mutter 1975 beim großen Frauenstreik dabei. Damals legten fast alle Frauen ihre Arbeit nieder, beruflich wie privat. Die völlig überforderten Männer mussten die Kinder mit ins Büro nehmen, in den Supermärkten waren die Regale mit Würstchen leer gekauft. Der Streik war die Initialzündung. Mit der Frauenpartei zogen viele Frauen ins Parlament, 1980 wurde mit Figdís Finnbogadóttir die weltweit erste Frau demokratisch zur Präsidentin gewählt. Das Geheimnis der isländischen Frauen ist aber folgendes: Sie konzentrierten sich immer auf strukturellen Wandel und nicht auf einzelne Ausnahmefrauen.
Was genau meinen Sie damit?
Jakobsdóttir
Mittelmäßige Frauen müssen exakt die gleichen Chancen haben wie mittelmäßige Männer. Das fängt bei der Karenz an. Vater und Mutter stehen in Island jeweils sechs Monate Karenz zu, und wenn er sie nicht nimmt, verfallen seine sechs Monate. Das hat zu einem Umdenken bei den Vätern geführt.
Sie haben drei Söhne. Wie haben Sie als Premierministerin Familie und Job unter einen Hut gebracht?
Jakobsdóttir
Mein Mann übernahm den Großteil der Karenz, die damals noch in sechs plus drei Monate geteilt wurde.
Wer übernahm bei Ihnen die unsichtbare Care-Arbeit, wer hatte Arzttermine, Geburtstage und Schulausflüge im Kopf?
Jakobsdóttir
Für Geburtstagsgeschenke war immer ich zuständig, der Rest verteilte sich über unser sehr enges familiäres Netzwerk. Und meine Buben wurden sehr schnell selbstständig – so gesehen ist es vielleicht sogar ein Vorteil, eine Politikerin als Mutter zu haben.
Trotz aller Erfolge für die Frauen haben Sie 2023 wieder an einem landesweiten Frauenstreik teilgenommen. Warum das?
Jakobsdóttir
Der Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen für die gleichen Jobs ist zwar so klein wie nirgendwo sonst auf der Welt. Aber immer noch arbeiten mehr Frauen in klassischen Frauenberufen wie der Pflege, wo die Gehälter niedriger sind.
Wie könnte man das ändern?
Jakobsdóttir
Wir haben Gewerkschaften und Unternehmen in Pilotprojekten an einen Tisch gesetzt und diskutiert, wie man die Lohnunterschiede in typischen Männer- und typischen Frauenbranchen angleichen könnte. Wir haben noch keine Lösung gefunden, aber der Prozess läuft.
Warum ist die Gewalt gegen Frauen in Island trotz allem noch sehr hoch?
Jakobsdóttir
Die Bereitschaft, Gewalt anzuzeigen, ist in den vergangenen zehn Jahren enorm gestiegen. Die Polizei ist speziell geschult, die Gewerkschaften haben Regularien für sexuelle Belästigung ausgearbeitet – und in den Schulen wird das Thema unterrichtet.
Sie haben im Jahr 2022 den Krimi „Reykjavík“ geschrieben, der in Island sofort zum Bestseller wurde. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, als Premierministerin mitten in der Pandemie einen Thriller zu schreiben?
Jakobsdóttir
Der Schriftsteller Ragnar Jónasson, ein enger Freund, und ich hatten bereits fünf Jahre darüber nachgedacht. Dann kam die Pandemie, und ich konnte nicht reisen, unzählige Meetings und Abendtermine wurden abgesagt. Anstatt zur Psychologin zu gehen, begann ich abends, die Hälfte des Krimis zu schreiben. Es war meine Psychohy-giene während der aufreibenden Coronazeit.
Wie schreibt man zu zweit einen Thriller?
Jakobsdóttir
Wir tauschten uns regelmäßig über den Plot aus, und dann schrieb jeder zu Hause drauflos. Ein Kapitel Ragnar, ein Kapitel ich, zwei Jahre lang.
Es geht um ein verschwundenes Mädchen, dessen Fall ganz Island über Jahrzehnte hinweg in Atem hält. Basiert die Geschichte auf einer wahren Begebenheit?
Jakobsdóttir
Nein. Aber es gibt viele sehr bekannte Fälle von Verschwundenen in Island, weil wir mit 404.000 Menschen eine sehr kleine Bevölkerung sind und auf einer sehr harschen Insel leben. In dem Krimi geht es wenig um Gewalt, es ist vielmehr eine Geschichte über Männerbünde, Politik, Macht, Nepotismus – und nicht zuletzt über Feminismus.
Sie sagten einmal, Politik und Krimis seien sich sehr ähnlich. Man könne da wie dort niemandem trauen. War es tatsächlich so schlimm in Ihrer Zeit als Premierministerin?
Jakobsdóttir
Habe ich das wirklich gesagt? Schrecklich! Aber tatsächlich kann Politik ein grausames Geschäft sein, in dem es hauptsächlich um Wettbewerb und Konkurrenz geht. Ich hatte das Glück, vielen Menschen trauen zu können. Aktuell aber ist die Politik ein hartes Pflaster, vor allem für Frauen. Muskelkraft und Männlichkeit dominieren wieder – was zeigt, dass man sich als Feministin niemals zurücklehnen darf.
Sie leiten aktuell den Polardialog, der Politik und Wissenschaft aus den Polarregionen vernetzt. Dazu gehören mit Alaska auch die USA. Deren Präsident Donald Trump hält nicht viel von der Wissenschaft, Klimaforschung ist ihm ein Gräuel.
Jakobsdóttir
Das stimmt. Dennoch nehmen an unseren Treffen regelmäßig US-Behördenvertreter und Wissenschafterinnen teil. Wir brauchen solche Plattformen, wo wir unsere Differenzen diskutieren können.
Donald Trump hat mehrmals betont, Grönland kaufen zu wollen.
Jakobsdóttir
Grönland ist unser nächster Nachbar, weshalb das Problem auch bei uns intensiv diskutiert wird. Auch wir sind ein kleines Land, das davon abhängt, dass internationales Recht respektiert wird. Deshalb werden wir Grönland hier immer den Rücken stärken.
Die Weltklimakonferenz findet heuer in Brasilien statt. Die Kritik am Veranstaltungsort Belém ebbt nicht ab. Die Stadt sei zu klein für die Menschenmassen, für neue Straßen werde Regenwald abgeholzt. Werden Sie im November hinfliegen?
Jakobsdóttir
Wenn ich noch Politikerin wäre, würde ich das auf jeden Fall. Als Vorsitzende der Paneuropäischen Kommission für Klima und Gesundheit der WHO werde ich aber anderen den Vortritt lassen.
Es wird oft kritisiert, dass Tausende Teilnehmende um die Welt jetten, um dann kein Ergebnis zu erzielen.
Jakobsdóttir
Aber man muss sich treffen, um etwas weiterzubringen. Ich war bei der Klimakonferenz in Paris 2015, bei der die Klimaziele festgesetzt wurden. Das war trotz allem ein großer Durchbruch. Es gibt immer die Chance für einen Durchbruch.
Sie haben 2024 die Präsidentschaftswahlen gegen Halla Tómasdóttir verloren, kurz darauf flog Ihre Partei, die Links-Grünen, aus dem Parlament. Sind mit links-grüner Politik aktuell keine Wahlen zu gewinnen?
Jakobsdóttir
Verlieren ist hart, und das ist zuletzt vielen grünen Parteien passiert. Es fühlt sich für viele Menschen nicht so an, als wären Umwelt und Klima Teil ihrer Alltagssorgen. Viele sind stattdessen mit der Teuerung und hohen Mieten beschäftigt.
Grüne werden oft mit Verzicht in Verbindung gebracht.
Jakobsdóttir
Das stimmt, und ich verstehe das auch. Grüne Politik darf nicht heißen, der Einzelnen zu sagen, dass sie weniger mit dem Auto fahren oder weniger Fleisch essen soll. Grüne Politik muss dafür sorgen, dass jene, die am meisten CO2 ausstoßen, auch dafür zahlen.
Wollen Sie eines Tages in die Politik zurückkehren?
Jakobsdóttir
Im Moment bin ich ausgelastet. Ich weiß aber nicht, wohin mich die Zukunft führen wird. Ich versuche einfach, nützlich zu bleiben.
Werden Sie noch ein Buch schreiben?
Jakobsdóttir
In meinem Kopf schwirren Ideen für drei Bücher. Gerade schreibe ich an meinen politischen Memoiren für meine Söhne. Ich weiß nicht, ob ich sie jemals veröffentlichen werde. Und einen Krimi habe ich auch bereits begonnen. Mal sehen, ob sich ein Verlag findet.
Islands Kultur ist eng verknüpft mit Elfen und Trollen. Glauben Sie an Fabelwesen?
Jakobsdóttir
Manche Menschen in Island glauben daran, ich gehöre nicht dazu.