Sarah Darwin ist die Ururenkelin des berühmten Forschers Charles Darwin. Ein Gespräch über Evolution, Gott, Galápagos – und wie der Mensch das Artensterben überleben könnte.
Forschende haben ausgerechnet, wie viele Gene Ihres berühmten Ururgroßvaters Charles Darwin in Ihnen stecken. Auf welches Ergebnis sind sie gekommen?
Sarah Darwin
Sie kamen auf etwa sechs Prozent. Das ist nicht sehr viel, oder? Charles Darwin hat außerdem seine Cousine ersten Grades geheiratet, das ist alles ein bisschen kompliziert.
Gibt es Erbstücke von Charles Darwin in Ihrer Familie?
Darwin
Kein einziges. Die Exponate, die er gesammelt hat, sind in allen möglichen Museen auf der Welt verteilt. Im Museum für Naturkunde Berlin, wo ich arbeite, haben wir ein Päckchen mit Staub von seiner Weltumsegelung. Er schabte ihn 1832 auf dem Weg von den Kanarischen Inseln nach Brasilien von den Segeln der Beagle, seines Schiffs. Darwin war von absolut allem fasziniert. Er wollte wissen, welche Mikroben sich darin befanden. Also schickte er das Päckchen nach Berlin, wo es einen sehr klugen Mikrobiologen gab.
Was hat er in Darwins Staub gefunden?
Darwin
Saharastaub vor allem. Als ihn eine Forscherinnengruppe 2007 noch einmal untersuchte, fand sie Mikroben an den Staubkörnern, die einen Segelturn über den Atlantik spielend überdauern – manche von ihnen können Jahrhunderte überleben.
Sie selbst sind Biologin und durch Zufall zu einer der führenden Tomatenforscherinnen geworden. Wie das?
Darwin
Ich arbeitete als botanische Illustratorin und wurde eingeladen, auf Galápagos einen Naturführer zu illustrieren. Eine Pflanze auf der langen Liste war die sogenannte Galápagos-Tomate. Mir fiel auf, dass sie völlig anders aussah als die wissenschaftlich beschriebene Tomate. Zum Beispiel waren die Früchte rot und nicht orange. Also habe ich alle namhaften Spezialistinnen und Spezialisten für Tomaten angeschrieben, und Professor Sandy Knapp meinte, sie werde sich um eine Finanzierung bemühen. Fünf Jahre später war es dann so weit.
Hat die Tomate Sie dazu gebracht, nach Kunst auch noch Biologie und Botanik zu studieren?
Darwin
Sie war sicher Teil meiner Entscheidung. Ein anderer war, dass mir als Künstlerin im Atelier der Kontakt zu den Menschen fehlte.
Gratwanderung zwischen Einnahmequelle und Umweltschutz
Gemeinsam mit zwei Kolleginnen haben Sie entdeckt, dass die Galápagos-Tomate nicht eine einzelne Art ist, sondern zwei. Die zweite haben Sie neu beschrieben – ein großartiges Ereignis im Leben einer Biologin. Und Sie durften ihr einen Namen geben. Warum haben Sie sie nicht nach Ihrem berühmten Ururgroßvater benannt?
Darwin
Weil das auch mein eigener Name ist – und man Pflanzen nicht nach sich selbst benennt. Ich wollte unbedingt Galápagos im Namen haben, weil sie nur dort vorkommt, und nannte sie „Solanum galapagense“.
Apropos Name: Stimmt es, dass die Frauen in Ihrer Familie bei der Heirat ungern den Namen ihrer Ehegatten annehmen?
Darwin
Mir wäre das bisher nicht aufgefallen. Es ist mittlerweile normal, vor allem für Forscherinnen, dass sie ihren Namen behalten. Ich habe mit 39 geheiratet, und ich denke, je älter man ist, desto weniger will man seinen Namen ändern.
Sie haben Charles Darwins Weltumsegelung auf der Beagle 2009 auf einem Segelboot für eine TV-Dokumentation wiederholt. Was hat Sie am meisten fasziniert?
Darwin
Es war eine unglaublich tolle Reise. Drei Orte sind mir besonders im Gedächtnis geblieben. Erstens Salvador de Bahia, jener Ort im brasilianischen Regenwald, in dem Charles Darwin fast religiöse Ehrfurcht ereilte ob der schieren Fülle der Natur. Als wir dort ankamen, standen wir vor einer Millionenstadt. Wir mussten stundenlang durch Betonschluchten fahren, um ein kleines Stück Regenwald zum Drehen zu finden. Dann brauchten wir noch einmal Stunden, um ein bisschen Ton ohne Motorsägen und Straßenlärm einfangen zu können. Es war so wahnsinnig tragisch, überall nur Menschen und keine Natur mehr.
Und der zweite Ort?
Darwin
In Feuerland erlebten wir das Gegenteil: Ein überwältigend urtümlicher Wald, aber ohne die indigenen Menschen, die dort zu Darwins Zeiten und bis in die 1960er-Jahre als Jäger und Sammler lebten. Viele mussten ihre Lebensweise aufgeben, und ihre wundervoll bildhafte Sprache, die von der innigen Beziehung zur Natur zeugte, ist mittlerweile ausgestorben. Der dritte Ort war Galápagos mit seiner unglaublichen Artenvielfalt und den Einwohnern, die diese auch sehr schätzen.
Die halbe Welt will die enorme Artenvielfalt auf den Galápagosinseln bewundern. Ruiniert der Tourismus am Ende das Paradies?
Darwin
Das ist ein sehr komplexes Problem. Ecuador ist ein armes Land. Galápagos ist dessen reichste Region, es ist sicher auf den Inseln, die Menschen sind gesünder als auf dem Festland. Die Einnahmen dort stammen zu einem Großteil aus dem Tourismus. Die Kehrseite ist: Die Inseln sind etwa 1000 Kilometer von der Küste entfernt, Trinkwasser muss zu 100 Prozent und Lebensmittel müssen zu etwa 75 Prozent importiert werden. Das ist ein unglaublicher Aufwand. Offiziell leben etwa 30.000 Menschen dort, tatsächlich sind es wahrscheinlich 40.000; dazu kommen jährlich mehr als 260.000 Touristinnen und Touristen. Je mehr Menschen dort sind, desto größer ist die Gefahr für die Biodiversität. Andererseits fließen Teile des Geldes der Gäste auch in den Umweltschutz.
Einer von 13 Darwinfinkenarten: auf jeder Insel ein anderer Schnabel, je nach Nahrungsangebot
Wie groß ist das Müllproblem?
Darwin
Groß. Ich habe während meiner Forschungen viel Zeit auf den Müllkippen verbracht, weil dort viele Tomatenpflanzen zu finden sind. Ihre Samen landen zum Beispiel durch die Windeln im Abfall, wenn Kleinkinder Tomaten gegessen haben. Darwin hat Galápagos als eine Welt im Kleinen beschrieben. Und er hatte recht damit. All die Probleme wie Müll, Tourismus, Umweltverschmutzung, übermäßiger Konsum, Erderwärmung sind in größerem Ausmaß auch global zu finden.
Aber können die Galápagosinseln trotzdem ein Schatz der Artenvielfalt bleiben?
Darwin
Was mich optimistisch macht, sind die Menschen, die dort leben. Vor 50 Jahren waren es Forschende aus den USA und Europa, die den Einwohnern sagten, sie müssten ihre wunderbare Natur schützen, und sie stießen auf Widerstand. Heute arbeiten Forschende und Einheimische eng zusammen. Ein kleines Beispiel: Als ich vor etwa 30 Jahren zum ersten Mal auf Galápagos war, hörte ich oft, wie sich die Touristen über importierte Zierpflanzen wie Hibiscus und Bougainvillea freuten. Diese sind fast verschwunden. In Privatgärten und auf den Verkehrsinseln der Gemeinden werden fast nur noch heimische Pflanzen verwendet.
Wir befinden uns gerade mitten in einem menschengemachten Massensterben. Tiere und Pflanzen sterben in großer Zahl aus: wegen des Klimawandels, wegen der intensiven Landwirtschaft, weil ihnen immer mehr Lebensraum genommen wird. Sägen wir an dem Ast, auf dem wir sitzen? Werden wir auch aussterben?
Darwin
Das Leben auf der Erde wird weitergehen – ob mit uns Menschen, ist die große Frage. Wir brauchen die Natur, um zu überleben. Es geht nicht ohne sauberes Wasser, saubere Luft und ausreichend Nahrung. Umweltschutz darf kein Luxus sein, es muss eine Notwendigkeit sein, die wir immer mitdenken.
Davon sind wir weit entfernt. Wird die Menschheit trotzdem überleben?
Darwin
Ich bin eine unverbesserliche Optimistin. Woran ich aber nicht glaube, ist reine Hoffnung, das ist mir zu passiv. Hier muss ich auch uns Forschende ins Gebet nehmen: Wir kommunizieren offenbar immer noch nicht ausreichend, dass bei jeder einzelnen Entscheidung mitbedacht werden muss, was sie für die Biodiversität bedeutet. Zum Beispiel beim Einkaufen: Auf den Lebensmitteln, auf jedem T-Shirt müsste vermerkt sein, wie viel CO2 seine Produktion verbraucht hat.
Sie forschen am Museum für Naturkunde in Berlin, Ihr Mann, Johannes Vogel, ist dort Generaldirektor. Sie beide bezeichnen die weltweiten Naturkundesammlungen als Lebensversicherung für die Menschheit. Wie ist das zu verstehen?
Darwin
Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Die Eier von Wanderfalken, gesammelt im 19. Jahrhundert, haben schon einmal die Menschheit gerettet. Die Bestände des Raubvogels gingen in den 1940er- und 1950er-Jahren rasant zurück. Die Eier brachen ihnen beim Brüten unter dem Hintern weg. Derek Ratcliffe, der Chef der Naturschutzbehörde in England, verglich die Eier mit alten Eiern im Naturkundemuseum in London. Der Befund: Die Schalen waren immer dünner geworden. Mit seiner Hilfe stellte man fest, dass das Insektizid DDT schuld war – und immense Schäden bei Mensch und Tier verursacht. DDT wurde daraufhin fast weltweit verboten. Naturkundesammlungen haben aber noch eine weitere, wahrscheinlich noch wichtigere Aufgabe.
Welche?
Darwin
Ein Ort zu sein, wo sich Menschen treffen, denen Natur wichtig ist. Das hilft gegen Depressionen angesichts der Zerstörung überall. Und natürlich können sie den immensen Wert der Natur vermitteln. In Berlin haben wir es in den vergangenen 15 Jahren geschafft, vor allem junge Erwachsene zwischen 16 und 40 Jahren ins Museum zu holen. Das sind keine Menschen, die mit ihren Kindern kommen, sondern Freundeskreise oder Paare, die sich bei uns verabreden. Sie reden miteinander, haben Spaß, sie hängen nicht am Handy. Wir brauchen diese Menschen, die an die Wissenschaft glauben, an den Umweltschutz, und die bereits wählen dürfen.
Noch einmal zurück zu Ihrem Vorfahren: Die nach ihm benannten Darwinfinken und die Riesenschildkröten brachten ihn auf die Idee, wie die Evolution funktionieren könnte. Wie gelang ihm das?
Darwin
Es waren weniger die Finken als die Schildkröten. Ein britischer Gouverneur auf Galápagos erzählte ihm, dass er anhand des Panzers einer Riesenschildkröte erkennen könne, von welcher der Inseln sie stammte. Das brachte Charles Darwin auf die Idee, dass sich die Tiere an die Umgebung der jeweiligen Insel angepasst hatten. Zum Beispiel hatten Schildkröten von trockeneren Inseln, wo sie Blätter von höheren Gewächsen fressen mussten, einen sattelförmigen Panzer. Dieser erlaubte es ihnen, den Hals höher zu recken als eine Schildkröte von nasseren Inseln mit niedriger Vegetation.
Darwin sprengte die Idee von Gott, der die Welt in sieben Tagen erschaffen hat.
Darwin
Er wunderte sich: Warum sollte ein Schöpfer auf knapp nebeneinanderliegenden Inseln verschiedene Spezies erschaffen?
Ist es Ihrer Meinung nach möglich, als Evolutionsbiologin an Gott zu glauben?
Darwin
Es gibt durchaus Menschen, die das schaffen.
Sarah Darwin,
Jahrgang 1964, ist wie ihr berühmter Vorfahr Charles Darwin Biologin und hat auf den Galápagosinseln eine bislang unbekannte Tomatenart entdeckt. Am Museum für Naturkunde in Berlin forscht sie zur Nachtigall und arbeitet als Wissenschaftsvermittlerin. Kürzlich erschien ihr Buch „Das Parlament der Natur“ und „Evolution“, ein illustriertes Kinderbuch über die Entstehung des Lebens auf der Erde.