Ein Kleinbus, davor stehen Menschen in Warnwesten und salutieren
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Nahost-Experte Gerlach: „Alle Leichen zu finden könnte sehr schwierig sein“

Daniel Gerlach glaubt nicht daran, dass die Hamas die Leichen getöteter Geiseln absichtlich zurückhält. Im Israel-Gaza-Deal Trumps sieht er keinen Friedensplan, sondern höchstens die Chance auf eine Stabilisierung Gazas und ein Ende des Gemetzels.

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US-Präsident Donald Trump hat es tatsächlich geschafft, dass beide Seiten, also die israelische Regierung und die Terrororganisation Hamas, seinem Vorschlag für eine Waffenruhe zustimmen. Wieso ist das ausgerechnet jetzt gelungen?

Daniel Gerlach

Die Unterhändler haben möglichst viele Punkte offengelassen oder vage formuliert, um die Zustimmung zu erleichtern. So konnten alle sagen: Wir sind jetzt erstmal dafür. Je weiter man in der Umsetzung fortschreitet, desto mehr wird das zum Problem. Selbst diejenigen, die das verhandelt haben, scheinen nur eine vage Vorstellung davon zu haben, wie es weitergeht. Sie gehen wohl davon aus, dass mit jedem Schritt eine neue Dynamik entsteht: Hat man den ersten geschafft, verbessern sich dem zufolge die Bedingungen für den zweiten und dritten.

Ein Mann lehnt an einer Mauer
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Daniel Gerlach, 48,

ist deutscher Nahostexperte. Er studierte Orientalistik und Geschichte an den Universitäten Hamburg und Paris IV Sorbonne und verfasste mehrere Bücher über die Region. Gerlach ist Direktor des Berliner Thinktanks Candid Foundation und Chefredakteur der Nahost-Fachzeitschrift „zenith“, die er 1999 mit Studienkollegen der Islamwissenschaften gegründet hat.

Was braucht es jetzt, damit das alles auch funktioniert?

Gerlach

Dringlich ist die Aufstellung einer international unterstützten Sicherheitsgruppe, die wie vereinbart die Kontrolle übernimmt. Umgehend aber muss die israelische Seite sofort die und in vollem Umfang die Grenzen für humanitäre und medizinische Hilfe öffnen. Der Umstand, dass die Hamas nicht alle toten Geiseln ausgehändigt hat, kann weder Grund noch Vorwand sein, Hilfe für Gaza zurückzuhalten. Politische Konditionierung von humanitärer Hilfe für notleidende Bevölkerung ist immer illegal – und in diesem Fall dazu geeignet, den ganzen Übergangsprozess zunichtezumachen.

In Israel meinen Angehörige der getöteten Geiseln, diese würden als Faustpfand zurückgehalten.

Gerlach

Ich sehe dafür keine Anhaltspunkte. Die Hamas, aber auch andere palästinensische Akteure gehen davon aus, dass Israels Regierung dies zum Anlass nehmen würde, die Angriffe fortzusetzen. Alle Leichen zu finden, könnte angesichts der Lage und der großflächigen Zerstörung wirklich eine sehr schwierige Operation zu sein – zumal noch nicht bekannt ist, wann und unter welchen Umständen die Geiseln ums Leben gekommen sind. Es sollte ja ein internationales forensisches Team, an dem sich unter anderem die Türkei beteiligt, an der Übergabe mitwirken. Wenn man nun die Lebenden so lange leiden lässt, bis man alle Toten gefunden und identifiziert hat, glaube ich nicht an einen Erfolg des Deals. Die internationalen Unterhändler müssen den Druck aufrechterhalten. Und Israel muss sich an die Vereinbarung halten und sich schrittweise aus dem Gazastreifen zurückziehen. Für die Sicherheit in dieser Phase sorgen sollen – so sieht es der Plan vor – palästinensische Polizeikräfte mit internationaler Unterstützung unter amerikanischer, ägyptischer und jordanischer Beteiligung.

Aktuell gibt es bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen der Hamas und verschiedenen Clans, die von Israel finanziert wurden.

Gerlach

Einige davon wurden wohl nicht nur finanziert, sondern auch bewaffnet. Entscheidend ist, dass es nicht zu einem Bürgerkrieg zwischen Clan-Milizen und der Hamas kommt; erste Anzeichen dafür sieht man schon an dem erbarmungslosen Vorgehen der Hamas in den ersten Tagen. So etwas erschwert abermals die Hilfe und den Einsatz von Helfern; die internationalen Sicherheitstruppen würden womöglich sofort unter Feuer geraten. Die Frage ist auch, was mit dem Hamas-Kommando geschieht. Wir wissen nicht, wo sich der militärische Hamas-Chef Izz al-Din al-Haddad befindet, der nach Ansicht einiger Beteiligter möglichst schnell aus dem Gaza-Streifen ins Exil gebracht werden muss. Und es ist wichtig, dass das geplante technokratische Verwaltungskomitee rasch einsatzbereit ist und die Macht übernimmt.

Wie würden sie den Deal zwischen Israel und der Hamas bezeichnen? Ist das eine Absichtserklärung oder schon so etwas wie der erste Schritt Richtung Friedensabkommen?

Gerlach

Wir sprechen hier lediglich über die Stabilisierung des Gazastreifens und von einem Ende des Gemetzels, nicht etwa von einem Friedensplan. Die amerikanische und israelische Seite will wohl den Eindruck erwecken, als sei die Stabilisierung des Gaza-Streifens schon der Friedensplan – und damit die Aufmerksamkeit auch weglenken von der Frage der Zweistaatenlösung. Gaza ist nicht Palästina, aber es schafft einen interessanten Präzedenzfall: Die Konfliktparteien, insbesondere Israel, das die militärische Oberhand hat, akzeptieren, dass internationale Akteure an der Herstellung der Ordnung in Gaza beteiligt sind und die Situation stabilisieren. Wenn dieser Präzedenzfall gelingt, dann könnte man ein ähnliches Modell theoretisch auch im Westjordanland anwenden – und eine internationale Lösung des Problems eröffnen.

Teil des Abkommens ist auch, dass die Hamas die Waffen abgibt. Das kommt aus Sicht der Hamas, die ihre Macht auf Waffen und Gewalt gründet, einer Kapitulation gleich. Kann Katar, das die Hamas finanziell unterstützte, Druck ausüben, damit die Entwaffnung gelingt?

Gerlach

Die Kataris unterstützen die Hamas nach meinem Kenntnisstand seit dem 7. Oktober 2023 nicht mehr finanziell. Hauptdruckmittel Katars ist, dass es die internationale Repräsentation der Hamas in Katar beherbergt und sie rauswerfen kann. Ferner, dass Katar gegenüber den USA Einfluss geltend macht, um Israel von einem Fortsetzen des Krieges abzuhalten und dies zurückfahren könnte. Meiner Einschätzung nach hat Katar der Hamas klargemacht, dass es deren Mitglieder im Land sofort abschiebt, sollte ihre Präsenz in Katar ein Risiko für die nationale Sicherheit werden. Das ist das Druckmittel gegenüber der Organisation, nicht aber gegenüber dem militärischen Personal im Gazastreifen. Hier hat man eigentlich kein Druckmittel. Welchen Druck soll man noch auf eine Gruppe ausüben, die täglich von der stärksten Armee des Nahen Ostens gejagt und bombardiert wird?

EIne Grafik von der Zerstörung Gazas
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Über wie viele und über welche Waffen verfügt die Hamas nach zwei Jahren Krieg überhaupt noch?

Gerlach

Das kann ich nur vermuten. Sie verfügen bestimmt noch über viele Schusswaffen, und selbst die Israelis scheinen überraschend wenige Erkenntnisse darüber zu haben, welche Waffendepots es noch gibt. Man hat ständig von Angriffen auf Hamas-Waffenlager unter zivilen Einrichtungen berichtet, dann aber selten den Beweis erbracht, dass solche Lager tatsächlich getroffen wurden. Ich gehe davon aus, dass es noch jede Menge Waffen gibt. Raketen und schwere Waffen werden vielleicht übergeben werden, aber Handfeuerwaffen und Sturmgewehre werden wohl irgendwo versteckt bleiben.

Wie kann es sein, dass Trump mit seiner Madman-Diplomatie, also der Abkehr von allem, was traditionelle Diplomatie definiert (und dem Vortäuschen von Wahnsinn zur Einschüchterung des Gegners), den Unterschied macht?

Gerlach

Madman-Diplomatie beschreibt es gut, aber vorgetäuscht ist der Wahnsinn nicht. Bei aller Freude über die Rückkehr der Geiseln und ein Ende der täglichen Angriffe mit Dutzenden Toten: Das Treffen mit Führern aus der halben Welt in Sharm el-Sheikh war zumindest für diese ein eher groteskes Theater, bei dem aber viele mitgespielt haben, um Trump zu huldigen. Für eine angebliche Meisterleistung, die man ihm bereits Anfang des Jahres auf dem Tablett serviert hatte. Hamas war damals bereits geschlagen; er hätte hauptsächlich dafür sorgen müssen, dass sich Netanyahu an die Waffenruhe hält. Die Geiseln wären freigekommen und zehntausend Palästinenser wären vielleicht noch am Leben. Nur wurden die Nationen zusammengetrommelt, um etwas zu unterzeichnen, wovon sie großenteils weder Konflikt- noch Vertragspartei sind, um Trumps Ego zu befriedigen. Nun wird so getan, als sei „Ende gut, alles gut“ und die Kriegsverbrechen in Gaza müssten nicht mehr thematisiert werden. Und israelische und amerikanische Sprecher verbreiten in den Medien das Narrativ, es habe einen großen, geheimen Friedensdeal gegeben, an dem die arabischen Staaten als Partner heimlich mitgewirkt hätten. Ich halte das für Unsinn, aber es kommt an.

Immerhin ist Trump etwas gelungen, das zuvor nicht geschafft wurde.

Gerlach

Die Absurdität der Inszenierung hat tatsächlich neue Bedingungen geschaffen. Plötzlich finden sich politische Kontrahenten auf der internationalen Ebene in einer ungewohnten Situation wieder, die sie selbst wahrscheinlich nicht ernstnehmen können; Sie spielen aber mit und kommen dazu, Dinge zu tun und zu sagen, die sie sonst nicht sagen würden. Bei Präsident Recep Tayyip Erdogan hat man das besonders eindrucksvoll gesehen – mit Erfolg. Die USA stützen sich gerade sehr auf die Türkei und messen ihr eine große Rolle in der Region bei, trotz heftiger Spannungen mit Israel. Oder Pakistan, dessen Premierminister in Sharm el-Sheikh anwesend war. Da geht es weniger um Gaza als darum, dass Pakistan die guten Beziehungen zu Trump nutzt, um seine geopolitische Rolle in Asien zu stärken. Trumps Auftreten verleiht Legitimation, an die man sonst sehr schwer gelangt. Man kann Trump zugutehalten, dass er Netanyahu zum Einlenken bewegt hat – um den Preis, dass er ihn innenpolitisch aufwertet und legitimiert. Und zur Wahrheit gehört auch, dass die USA ihm de facto fast jeden Wunsch erfüllt haben.

Haben Sie Hoffnungen auf einen echten Friedensprozess? Welche Voraussetzungen braucht es dafür in Israel?

Gerlach

Um nach den für 2026 geplanten Wahlen in Israel eine stabile Koalition für Frieden und eine Zweistaatenlösung zu schaffen, braucht man eine starke Oppositionsführung und man müsste 400.000 bis 500.000 israelische Wähler davon überzeugen, dass die Besatzung Israel mehr schadet als nutzt. Das Land hat etwa ein Viertel arabisch-israelische – oder palästinensisch-israelische – Wahlberechtigte, die bisher kaum politisch mobilisiert sind und eine schwache Wahlbeteiligung aufweisen. Ändert man das und findet unter den jüdischen Israelis und liberalen Zionisten Alliierte, könnte sich das Blatt theoretisch wenden. Dafür braucht es viel Überzeugungsarbeit, aber auch die Einsicht, dass die Palästinenser ein Recht auf Selbstbestimmung haben und die Zukunft des Landes nicht nur von israelischen Wahlergebnissen abhängen kann.

Trump und Netanjahu lächeln einander an, dahinter eine israelische Flagge
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Das klingt utopisch. In der aktuellen Regierung sitzen Rechtsextreme, die Gaza und das Westjordanland am liebsten annektieren würden.

Gerlach

Israels Gesellschaft ist derzeit in Teilen radikalisiert, aber nicht rechtsextrem. Die israelischen Rechtsextremen mobilisieren stark, sind aber in Israel eine Minderheit. Deswegen wurden sie fatalerweise auch lange nicht ernst genommen. Die Ultraorthodoxen sind eine wachsende politische Macht, aber sie haben andere Prioritäten als die Siedlungspolitik. Mit dem entsprechenden internationalen Engagement, das Friedenslager in Israel zu stärken und eine Zweistaatenlösung voranzutreiben, ist es möglich, eine Wende herbeizuführen. Deswegen haben Figuren wie Finanzminister Bezalel Smotrich so eine Eile, Tatsachen zu schaffen: Sie wissen, dass die internationale Unterstützung für die Besatzungspolitik in Europa und in der Welt rapide abnimmt, und wollen schnell noch Tatsachen schaffen. Das internationale Engagement ist wichtig. Man darf die Zweistaatenlösung nicht allein von israelischen Wahlen abhängig machen.

Ohne ihre Zustimmung hat der Plan doch keine Chance.

Gerlach

Deswegen ist es so wichtig, das Friedenslager in Israel zu stärken, das pragmatische Lager, und diejenigen Kräfte einzuhegen, die auf Vertreibung und Gewalt setzen.

Wie?

Gerlach

Indem man die internationale Unterstützung für Israel auch davon abhängig macht, ob die Regierung bereit ist, etwas für den Frieden zu tun. Dazu gehört, das palästinensische Recht auf Selbstbestimmung zu akzeptieren, und ob sie ihre Politik danach ausrichtet, anstatt mutwillig und systematisch eine Ende der Besatzung und eine Eigenstaatlichkeit zu verhindern.

Welche Werkzeuge gibt es dafür? Meinen Sie etwa die Möglichkeit einer teilweisen Aussetzung des Assoziierungsabkommens der EU mit Israel? Oder geht es um die Finanz- und Militärhilfen aus den USA?

Gerlach

Es gibt viele Möglichkeiten und Instrumente. In der Europäischen Union wird etwa eine Visa-Pflicht für Menschen diskutiert, die in völkerrechtswidrig besetzten Gebieten wohnen. Die Palästinenser in der Westbank brauchen ja auch ein Visum für den Schengenraum. Sanktionen – auch gegen Menschen, die zu Gewalt aufrufen und sich daran beteiligen – sind das eine. Wichtig ist aber auch Anreize zu schaffen und die Partner und politischen Kräfte zu unterstützen, die sich für Frieden engagieren, sich an internationales Recht halten und selbst in Lösungen investieren. Und da genügt es teilweise schon, wenn die europäischen Staaten sich an ihre eigenen Verpflichtungen und Aussagen halten.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort und seit 2025 stellvertretende Ressortleiterin. Schwerpunkt: Europa und USA.