
Magyar, leader of the opposition Tisza party holds a rally in Kotcse
© Bernadett Szabo / REUTERS / picturedesk.com
Magyar, leader of the opposition Tisza party holds a rally in Kotcse
Duell im Dorf
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Der sonst so ruhige 500-Seelen-Ort Kötcse im hügeligen Süden des Plattensees war am vergangenen Sonntag alles andere als beschaulich. Rund 2000 Menschen aus dem ganzen Land waren dem Ruf von Ungarns neuem Polit-Star Péter Magyar gefolgt. Auf dem Hauptplatz, der hier Heldenplatz (Hösök tere) heißt, wollten sie seiner Botschaft lauschen: Viktor Orbán muss abgewählt und das Land den Bürgern zurückgegeben werden.
Ungarn soll wieder ein aktives, verlässliches Mitglied der EU und der NATO werden.
Orbán-Herausforderer Péter Magyar
Das Publikum in Kötcse besteht größtenteils aus Leuten vom Land. Der 68-jährige József Deák ist schon in aller Früh aus Szolnok, 100 Kilometer östlich von Budapest, losgefahren. „Ich gehöre der Generation an, die die Zeit nach der demokratischen Wende von 1989 und 1990 verbockt hat“, sagt er selbstkritisch. „Wir ließen es zu, dass es so wurde, wie es jetzt ist.“ Im Jahr 1990 engagierte er sich als Gemeinderat in der Kleinstadt Tiszafüred, gewählt wurde er als Parteiloser mit Unterstützung des damals noch demokratischen und liberalen Fidesz. Irgendwann ließ sein Interesse an der aktiven Politik nach, die Fidesz-Partei folgte dem Weg Orbáns. Péter Magyar, meint Deák, biete „etwas Handfestes“ an. „Er vermittelt Glaubwürdigkeit, er hat die Kraft, die jetzt Regierenden zur Rechenschaft zu ziehen.“
Magyar trat nicht zufällig in Kötcse auf. Rund 700 Meter vom Hauptplatz entfernt versammelte der rechtspopulistische Ministerpräsident Viktor Orbán am selben Tag seinen Hofstaat im Dobozy-Landschloss zum alljährlichen Treffen mit Partei und prominenten Wohlgesinnten.
Das Duell markierte den Auftakt für den Wahlkampf in Ungarn. Im April kommenden Jahres – der genaue Termin steht noch nicht fest – droht Orbán nach 16 Jahren und vier Regierungszeiten in Folge die Abwahl. Magyar, der erst vor eineinhalb Jahren in die Politik ging, zieht Massen an, wo auch immer er auftritt. Auf ihn richten sich die Hoffnungen der von Orbán Enttäuschten, der Zurückgelassenen, die in seinem System der Korruption und Freunderlwirtschaft nicht weiterkommen.

Magyar-Fans
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Magyar-Fans
Magyar bündelt die Wut derer, die sich über den offen zur Schau gestellten Protz von Orbán und seiner Höflinge empören. Die jüngste Meinungsumfrage, deren Ergebnisse das angesehene Institut Medián am vergangenen Mittwoch veröffentlichte, sieht Magyars Respekts- und Freiheitspartei (Tisza) bei 51 Prozent, Orbáns Fidesz kommt auf 38 Prozent. Der Trend scheint konstant: Im Juni stand es 51 zu 36 Prozent für die Tisza.
Über Feldwege zu Magyar
An diesem ersten Septembersonntag zeigt sich im Dorf Kötcse, worum es bei der kommenden Wahl in Ungarn geht. In den kommen sieben Monaten werden die beiden Kontrahenten um die Macht ringen – unerbittlich und nicht zimperlich in der Wahl der Mittel. Denn es geht ums Ganze.
In den vielen Jahren seiner Herrschaft riss Orbán Macht, Geld und Netzwerke an sich, mittlerweile kontrollieren seine Leute einen Großteil der Medien. Der 62-Jährige brachte Polizei, Staatsanwaltschaft und Teile der Richterschaft auf Kurs, sein Staat gibt Unsummen für Propaganda aus. Orbáns Oligarchen, darunter sein Schwiegersohn István Tiborcz, haben sich Teile der Wirtschaft unterworfen – und leben dennoch fast ausschließlich von überteuerten Staatsaufträgen. Zu ihren Reichtümern gehören Privatflugzeuge, Yachten, Schlösser und Auslandsimmobilien, die auch Orbán und seine Parteifreunde nutzen. Ein eng gewobenes Spinnennetz aus Abhängigkeiten sorgt dafür, dass Orbáns Apparatschiks das Wahlvolk selbst in den Tiefen des ländlichen Raums mit Jobs, Sozialhilfen und Drohungen an die Fidesz-Partei binden.

Viktor Orbán
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Viktor Orbán
Einst war Ungarn unter den ehemals kommunistischen Transformationsländern ein Vorreiter, in der EU ist es heute faktisch Schlusslicht, bei der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung steht nur Bulgarien noch schlechter da. Wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit hält die EU Hilfsgelder in Höhe von 20 Milliarden Euro zurück. Mit seiner prorussischen und prochinesischen Außenpolitik sowie der offen gezeigten Feindschaft gegenüber dem von Russland angegriffenen Nachbarland Ukraine steht Orbán in der EU und NATO nahezu isoliert da.
In Kötcse stellt sich das ungarische Machtgefälle so dar: Wegen der ein paar Stunden später angesetzten Orbán-Veranstaltung sperrt die Polizei 80 Prozent des Ortes ab, Magyar und seine Anhänger erreichen ihren Veranstaltungsort nur über einen Umweg auf Feldwegen. Der guten Laune tut das keinen Abbruch. Immer wieder skandieren Menschengruppen auf dem Anmarsch den Kampfruf „Die Theiß schwillt an!“ Tisza, die Abkürzung für Magyars Partei, ist der ungarische Name für den Fluss Theiß, der sich mit seinen Auen durch den Osten Ungarns schlängelt.

Magyar mit Anhängern auf dem Weg zur Veranstaltung
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Magyar mit Anhängern auf dem Weg zur Veranstaltung
Zu Orbáns Veranstaltung gelangen die geladenen Gäste in großen schwarzen Autos mit verdunkelten Scheiben. Einige bleiben zeitweise in der Masse der zu Fuß gehenden Magyar-Anhänger stecken. Diese haben ihre Fahrzeuge mangels Parkplätzen in einem Nachbardorf abgestellt. Orbán veranstaltet sein „Bürgerliches Picknick“, wie er die Veranstaltung nennt, seit 2004, als er noch in der Opposition war. Eingeladen sind neben führenden Fidesz-Politikern Vertreter des weiteren Vorhofs der Partei: bekannte Gesichter der Regime-Medien, Sportler, Kulturmenschen und Prominente, die sich Orbán andienen und daraus beträchtliche Vorteile ziehen. Wer in Kötcse dabei ist, der zählt im Orbán-Staat.
Im Jahr 2009, sieben Monate vor der Wahl, die Orbán an die Macht bringen sollte, skizzierte der Fidesz-Führer hier in Kötcse seinen Plan, eine langfristige Herrschaft über Ungarn zu errichten. Die damals regierende Mitte-Links-Koalition hatte das Land nach acht Jahren dermaßen abgewirtschaftet, dass sich die parlamentarische Zweidrittelmehrheit für Orbáns Fidesz bereits klar abzeichnete. In den kommenden 15 bis 20 Jahren müsse das von ihm dominierte „zentrale Kraftfeld“ die ungarische Politik bestimmen, dozierte Orbán damals. So wurde Kötcse zu einem Symbolort des Orbán-Regimes – ein Sinnbild, in das Magyar an diesem Septembersamstag mit seinen Anhängern eindringt.
Hähnchen versus Sultan
In Kötcse sieht und hört eine begeisterte Menge, wie sich der 44-Jährige über Orbán lustig macht. Wie er polemisiert, anprangert, Steuersenkungen und Wohltaten für die Armen verspricht. Wie er Siegesgewissheit ausstrahlt und den Niedergang des Landes unter Orbán in satten Farben ausmalt. „Ungarn wird wieder ein aktives, verlässliches Mitglied der EU und der NATO werden. Wir kungeln nicht mit Kriegsverbrechern und Diktatoren“, ruft Magyar. Und das Publikum antwortet im Chor: „Russkis nach Hause!“

Magyar mit Fans
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Magyar mit Fans
Zuletzt versuchte Orbán, Magyar als „Hähnchen“ abzutun, das sich nur aufplustern würde. „Aus einem Hähnchen wird nie ein großer Hahn“, tönte er auch in Kötcse. Magyar drehte den Spieß um und nannte Orbán den „türkischen Sultan“ – eine Anspielung auf das bekannte ungarische Volksmärchen von einem Hähnchen, das im Garten seiner Halterin einen Golddukaten findet. Der türkische Sultan nimmt dem Hähnchen das Goldstück weg, das Tier wehrt sich, kräht den Diebstahl in die Welt hinaus, erleidet Strafen, bekommt es aber am Ende dank seiner Beharrlichkeit und Schlagfertigkeit zurück. „Sultan, wo ist der Golddukaten?“, ruft Magyar in seiner Ansprache. „Sein Zauber ist verflogen. Der türkische Sultan, der Kaiser ist nackt.“
Sich selbst bezeichnet Magyar als Konservativen, auch er war bis vor Kurzem Teil des Orbán-Systems. Er bekleidete niedrigere Ämter und Funktionen und war mit der damaligen Justizministerin Judit Varga verheiratet, von der er inzwischen geschieden ist. Orbán hatte die politisch talentierte und hyperloyale Varga für Höheres bestimmt. Doch er ließ sie fallen, als sich herausstellte, dass sie an der Begnadigung des Komplizen eines pädophilen Straftäters beteiligt gewesen war. Zum Rücktritt zwang Orbán auch Staatspräsidentin Katalin Novák, die den Akt vollzogen hatte. Magyar sagte damals, im Februar des Vorjahres, Orbáns Umgang mit den beiden Fidesz-Frauen sei für ihn der letzte Anstoß gewesen, mit dem System zu brechen.
Nichts wird vergessen, alles wird notiert, und alles abgerechnet.
Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán
Im Europäischen Parlament schloss sich Magyars Tisza-Partei der Fraktion der Europäischen Volkspartei an (EVP) an, der auch die ÖVP angehört. Die liberale Budapester Intelligenzia liebt den Fidesz-Renegaten, weil sie in ihm die einzige Chance sieht, Orbán loszuwerden. Beim Versuch, Orbán abzuwählen, waren die links-liberalen und Mitte-Parteien wiederholt gescheitert. In den letzten Umfragen liegen sie unter der für den Einzug ins Parlament relevanten Fünf-Prozent-Schwelle.
Manche glauben, für Magyar liege sogar eine Zweidrittelmehrheit in Reichweite. Das ist insofern plausibel, als das ungarische Wahlsystem starke mehrheitswahlrechtliche Elemente aufweist. Gelänge es Magyar, einen bedeutenden Teil der Einzelwahlkreise zu gewinnen, wäre ihm die Zweidrittelmehrheit gewiss. In seinen vier Amtszeiten hatte Orbán durchgehend die verfassungsändernde „Super-Majorität“ und konnte damit den Staat zu einer Semi-Autokratie umbauen. Umgekehrt könnte Magyar das Orbán-System mit einer Verfassungsmehrheit rasch und effizient wieder abmontieren.
Mit einer einfachen Mehrheit hätte es Magyar hingegen schwerer. Die von Orbáns Leuten besetzten Institutionen, darunter Verfassungsgericht, Medienaufsicht, Oberste Staatsanwaltschaft und Rechnungshof, sind durch Gesetze im Verfassungsrang einbetoniert. Ohne Zweidrittelmehrheit ließen sie sich nicht antasten – und könnten eine künftige Magyar-Regierung massiv blockieren.
Und selbst der einfache Wahlsieg ist Magyar noch nicht sicher. Orbán wird enorme Ressourcen einsetzen, um ihn und vor allem seine politisch unerfahrenen, aus der Mitte der Bevölkerung stammenden Kandidaten zu diffamieren. Die Orbán-Propaganda versteht es, aus jedem kleinen Ausrutscher, jeder missverständlichen Äußerung ein Narrativ zu stricken, das wirkt. Orbáns Rede in Kötcse fand diesmal ausnahmsweise nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, sondern wurde – wohl als Reaktion auf Magyars Auftritt – live in den sozialen Medien gestreamt. Seinen Hofstaat schwor der ungarische Machtmensch auf den Kampf ein: „Alles muss dem gemeinsamen Sieg untergeordnet werden. Von jetzt an muss jeder tun, was er kann.“ Und er schloss mit einer Drohung: „Nichts wird vergessen, alles wird notiert, und alles abgerechnet.“