Russland-Ukraine-Konflikt

Westen verhängt Sanktionen gegen Russland - Moskau unbeeindruckt

Eskalation im Russland-Ukraine-Konflikt: Der russische Präsident Putin hat die Entsendung von Truppen in den umkämpften Osten des Landes angeordnet.

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  • Russlands Präsident Putin erkennt Separatistengebiete in der Ukraine als unabhängig an
  • Putin entsendet Militär in die Ostukraine
  • EU und USA bringen Sanktionen auf den Weg
  • International heftige Kritik an Russland
  • Van der Bellen verurteilt Putins Einmarschbefehl
  • Nehammer: "Zeichen stehen immer mehr auf Konfrontation"
  • 150.000 russische Soldaten sollen an der Grenze versammelt sein
  • Moskau will in der Ostukraine offenbar Militärbasen errichten
  • Militärexperte Franz-Stefan Gady beurteilt die Lage
  • profil-Analyse: Will Putin Krieg?
  • Wie Russland die Ukraine angreifen könnte
  • Britische Außenministerin: "Aggression darf nicht belohnt werden"

Nach der Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin am Montag habe sich die aktuelle Lage in der Ukraine massiv verschärft, erklärte am Dienstagvormittag der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) nach einer Sitzung des Krisenkabinetts. Die EU werde als Antwort auf einen stufenweisen Ansatz bei neuen Sanktionen setzten. Die Zeichen stünden jedenfalls immer mehr auf Konfrontation, so Nehammer.

"In den letzten Stunden ist das eingetreten, was wir befürchtet und wovor wir gewarnt haben", sagte der Bundeskanzler in seiner Pressestatement. Seit der Ankündigung Russlands, die selbst ernannten "Volksrepubliken" der Ostukraine als unabhängige Staaten anzuerkennen, stünden die Zeichen immer mehr auf Konfrontation. Es sei nicht das erste Mal, dass die Russische Föderation Phantomstaaten schaffe, bedauerte Nehammer mit Verweis auf Abchasien und Südossetien in Georgien.

Diese Anerkennung steht im klaren Widerspruch zum den Minsker Abkommen. Es habe zwar im Verhandlungsprozess Probleme gegeben, aber die Inhalte dieser Abkommen seien immer wichtig gewesen und sie hätten nun durch die Verletzung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine jedoch keine Bedeutung mehr, sagte Nehammer. Der russische Bruch der Abkommen erschwere diplomatische Lösungen und der russische Botschafter in Wien werde aus diesem Grund am Dienstag in das Außenministerium zitiert, kündigte der Bundeskanzler an.

Die EU werde geschlossen und geeint auf diese Situation mit einem "stufenweisen Ansatz" reagieren, da man leider davon ausgehen müsse, dass die Spitze der Eskalation nicht erreicht worden sei. Erste europäische Sanktionen würden am Dienstagnachmittag beschlossen. "Wichtig ist, dass die Sanktionen im europäischen Einklang stattfinden", sagte er.

Erneut betonte Nehammer Österreichs Neutralität. Man habe aber eine klare Meinung, wenn das Völkerrecht gebrochen würde. Die Stärke des Rechts und nicht das Recht der Stärke solle als Grundlage des politischen Handels dienen, forderte er. Es müsse auch weitere diplomatische Initiativen geben. Zu etwaigen Kontakten zum Militärbündnis NATO in der aktuellen Situation wollte Nehammer auf APA-Nachfrage nichts sagen.

In Bezug auf Auswirkungen in Österreich erklärte der Bundeskanzler, dass die österreichische Energieversorgung selbst für den Fall gesichert wäre, wenn Russland Gaslieferungen sofort völlig einstellen würde. Das Krisenkabinett habe sich aber auch mit Fragen der kritischen Infrastruktur in Österreich und der diesbezüglichen Bewertung von russischen Akteuren beschäftigt, sagte Nehammer insbesondere mit Verweis auf etwaige Hackerangriffe. "Die Lage ist derzeit in Österreich ruhig und sicher", erläuterte er. Größere Flüchtlingsbewegungen aus der Ukraine nach Österreich wären nicht zu erwarten, es könnte aber nötig sein, stärker betroffene EU-Staaten zu unterstützen.

NATO warnt vor "groß angelegtem Angriff" Russlands auf Ukraine

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat vor einem "groß angelegten Angriff" Russlands auf die Ukraine gewarnt. Das Militärbündnis beobachte einen fortgesetzten russischen Truppenaufmarsch und Vorbereitungen für einen solchen Angriff, sagte Stoltenberg am Dienstag nach einer Sitzung des NATO-Ukraine-Komitees in Brüssel. Er sprach von der gefährlichsten Lage für Europa innerhalb einer Generation.

Stoltenberg begrüßte den deutschen Stopp des Genehmigungsverfahrens für die umstrittene Gas-Pipeline Nord Stream 2. Zugleich verurteilte der Norweger die Entscheidung Russlands zur Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk sowie "den weiteren russischen Einmarsch in die Ukraine". Russland sei nun von verdeckten Versuchen, die Ukraine zu destabilisieren, zu offenen militärischen Aktionen übergegangen. "Das ist eine ernsthafte Eskalation Russlands", sagte Stoltenberg.

Putin entsendet Militär in die Ostukraine

Der russische Präsident Wladimir Putin hat die Entsendung von Truppen in den umkämpften Osten des Landes angeordnet. Die Einheiten sollen in den kurz zuvor von ihm als unabhängige Staaten anerkannten "Volksrepubliken Luhansk und Donezk" für "Frieden" sorgen. Dies geht aus einem Dekret hervor, das Putin am Montag in Moskau unterzeichnet hat.

Wann die Soldaten in die von pro-russischen Separatisten kontrollierten Gebiete einrücken, blieb zunächst unklar. Laut einem Augenzeugen rollten in den Außenbezirken der Stadt Donezk jedenfalls Kolonnen von Militärfahrzeugen durch die Straßen, darunter auch Panzer. Die USA und die EU kündigten Strafmaßnahmen an.

US-UKRAINE-RUSSIA-CONFLICT-UN

US-Präsident Joe Biden sprach auch schon von einer "raschen und entschlossenen" Reaktion auf weitere Aggressionen Russlands gegen die Ukraine. In einem Telefonat mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj habe Biden das Engagement der Vereinigten Staaten für die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine betont, teilte das Weiße Haus mit. "Präsident Biden bekräftigte, dass die Vereinigten Staaten im Gleichschritt mit ihren Verbündeten und Partnern rasch und entschlossen auf eine weitere russische Aggression gegen die Ukraine reagieren werden", hieß es.

Biden hatte auch mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz und dem französischen Staatschef Emmanuel Macron telefoniert. Biden, Scholz und Macron hätten erörtertet, wie sie ihre Reaktion auf die nächsten Schritte weiter koordinieren werden.

Selenskyj reagierte zurückhaltend auf die russische Anerkennung der "Volksrepubliken" in der Ostukraine als unabhängige Staaten. "Wir sind dem friedlichen und diplomatischen Weg treu und werden nur auf diesem gehen", sagte er in einer Ansprache in der Nacht auf Dienstag. Auf Provokationen werde Kiew nicht reagieren - aber auch kein Territorium aufgeben. Zugleich betonte der 44-Jährige: "Wir erwarten von unseren Partnern klare und wirkungsvolle Schritte der Unterstützung."

150.000 russische Soldaten an der Grenze

Der vor Jahren vereinbarte Waffenstillstand in Donezk und Luhansk hält angesichts Hunderter Verstöße nicht mehr, es bekämpfen sich dort ukrainische Regierungstruppen und von Moskau unterstützte Aufständische. Russland hat nach westlichen Angaben etwa 150.000 Soldaten an der Grenze zum Nachbarland zusammengezogen. Ein baldiges Vorrücken in die Ostukraine wäre daher leicht möglich. Moskau hatte seit Wochen Befürchtungen des Westens widersprochen, dass ein Einmarsch bevorstehen könnte.

Die EU wird mit Sanktionen reagieren, wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel am Abend erklärten. Die Strafmaßnahmen sollten diejenigen treffen, die daran beteiligt sind, hieß es. Von der Leyen und Michel verurteilten das Vorgehen Russlands als "eklatanten Verstoß gegen das Völkerrecht sowie die territoriale Integrität der Ukraine".

In einem Gespräch mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bekräftigte Michel die "volle Solidarität" der EU mit der Ukraine "Die EU steht fest an Ihrer Seite und unterstützt uneingeschränkt die territoriale Integrität der Ukraine", schrieb Michel am Dienstag bei Twitter. Russlands Vorstoß sei ein Angriff auf internationales Recht und die auf Regeln basierende internationale Ordnung. Der Kreml ließ indes wissen, Russland sei "stets offen für Dialog und Diplomatie".

Der offizielle Beschluss über die gegen Russland angekündigten EU-Sanktionen soll bereits am Dienstag auf den Weg gebracht werden. Wie die derzeitige französische EU-Ratspräsidentschaft in der Nacht ankündigte, wird es dazu am Vormittag um 9.30 Uhr ein Treffen der ständigen Vertreter der EU-Staaten in Brüssel geben. Dabei soll der Vorbereitungsprozess für die Strafmaßnahmen abgeschlossen werden. Im Anschluss könnten sie vom Ministerrat beschlossen werden. Möglich ist dabei auch ein Beschluss im schriftlichen Verfahren. Was für Sanktionen genau verhängt werden, blieb zunächst offen.

Biden unterzeichnete am Montagabend wie angekündigt eine Exekutivanordnung mit Sanktionen. Sie verbietet Geschäfte in oder mit den beiden von Russland anerkannten Separatistenregionen. Dadurch werden allen Amerikanern unabhängig von ihrem Standort neue Investitionen in den Gebieten untersagt, teilte das Weiße Haus mit. Zudem würden Importe aus den Regionen verboten. Die Details dazu sollen auch hier laut einem hohen US-Regierungsbeamten am Dienstag mitgeteilt werden. Und weitere Strafmaßnahmen sind in Arbeit: "Wir planen, morgen neue Sanktionen gegen Russland als Reaktion auf Moskaus heutige Entscheidungen und Aktionen anzukündigen", sagt ein Sprecher des Weißen Hauses. "Wir stimmen uns mit Verbündeten und Partnern ab." Präsident Biden habe weiterhin nicht die Absicht, amerikanische Streitkräfte in die Ukraine zu schicken, betonte ein Beamter.

Van der Bellen verurteilt Putins Einmarschbefehl

Bundespräsident Alexander van der Bellen kritisiert die von Wladimir Putin angeordnete Entsendung russischer Truppen nach Donezk und Luhansk als eklatante Verletzung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine. Der russische Präsident überschreite "eine rote Linie, indem er der Ukraine ihre Eigenständigkeit abspricht und sein eigenes Volk auf einen Krieg vorzubereiten scheint." Auch SPÖ und NEOS üben scharfe Kritik am Vorgehen Putins, die FPÖ zeigt Verständnis.

Der britische Premierminister Boris Johnson prangerte den Schritt Putins ebenfalls als "offenen Bruch internationalen Rechts" an und sprach von einer "schamlosen Verletzung der Souveränität und Integrität der Ukraine". Auch Johnson will am Dienstag Sanktionen gegen Russland verkünden. Ein Sprecher seines Büros erklärte am Montagabend, dass Johnson am frühen Dienstagmorgen eine Krisensitzung des Kabinetts leiten werde, auf der ein "bedeutendes Sanktionspaket beschlossen" werden solle, das "sofort" umgesetzt werden soll.

Putin forderte mit Blick auf die Kämpfe im Donbass die ukrainische Führung auf, sofort das Feuer in der Ukraine einzustellen. Andernfalls werde Kiew die volle Verantwortung dafür tragen, sagte er. Der Kreml-Chef warf zudem der NATO vor, mit einer "unverschämten Aneignung" der Ukraine begonnen zu haben. Der Westen wolle die Ukraine als "Theater möglicher Kampfhandlungen" erschließen.

Bisher mehr als 14.000 Tote seit 2014

Die pro-russischen Separatistenführer in den beiden Regionen hatten Putin zuvor um Beistand im Kampf gegen die ukrainischen Regierungstruppen gebeten. Nach UNO-Schätzungen gibt es in dem seit acht Jahren währenden Konflikt bisher mehr als 14.000 Tote.

Russland-Ukraine-Konflikt

Putin sprach in der Fernsehansprache trotz fehlender Beweise von einem Massenverbrechen am russischstämmigen Volk in der Ostukraine. "Die sogenannte zivilisierte Welt zieht es vor, den von Kiew begangenen Genozid im Donbass zu ignorieren", sagte Putin. Vier Millionen Menschen seien betroffen. Die USA hatten Russland zuletzt beschuldigt, möglicherweise den Vorwurf des Völkermordes als Vorwand für eine Invasion nutzen zu wollen.

Putin warf der NATO überdies eine jahrelange Täuschung vor. Russland sei zu Sowjetzeiten bei der Wiedervereinigung Deutschlands versprochen worden, dass die NATO sich kein bisschen nach Osten ausdehne. "Sie haben uns betrogen", sagte Putin und warf dem westlichen Bündnis vor, bereits fünf Wellen der Ausdehnung nach Osten durchgezogen zu haben - und Russland wie einen Feind zu behandeln. "Warum das alles? Wozu?", fragte Putin. Er hatte zuletzt mehrfach vor einer Aufnahme der Ukraine in die NATO gewarnt. Russland sieht sich dadurch in seiner Sicherheit bedroht.

Putin warnte außerdem, dass in der Ukraine Atomwaffen hergestellt werden könnten. "Die Ukraine verfügt tatsächlich immer noch über sowjetische Nukleartechnologien und Trägersysteme für solche Waffen."

Moskau will in der Ostukraine offenbar Militärbasen errichten

Russland hat sich das Recht zum Bau von Militärbasen in den abtrünnigen Donbass-Regionen gesichert. Das geht aus einer veröffentlichten Kopie einer Vereinbarung hervor, die Putin mit Vertretern der selbst ernannten Volksrepubliken unterzeichnet hat. Russland und die beiden abtrünnigen Regionen wollen zudem gesonderte Abkommen zur militärischen Zusammenarbeit unterzeichnen. Über die entsprechenden Gesetzesentwürfe soll das russische Parlament am Dienstag beraten.

Der Separatistenführer Denis Puschilin bezeichnete die Anerkennungen als "historischen Moment". Dieser "wird für immer und ewig als Wiederherstellung von Gerechtigkeit und Wahrheit in unser Leben eingehen", schrieb er in der Nacht auf Dienstag im Nachrichtenkanal Telegram. "Die Weichen für unsere Zukunft werden heute gestellt, und wir blicken mit Zuversicht in die Zukunft." Bei der Entscheidung Putins gehe es mehr als nur um Unterstützung. Es gehe um "Vertrauen in eine friedliche Zukunft für einen starken russischen Donbass", schrieb Puschilin weiter.

Der Kreml hatte zuvor am Montag Hoffnungen auf ein baldiges Treffen Putins mit Biden gedämpft. Ob es nun dazu kommen wird, ist fraglich. Die USA würden aber die Diplomatie so lange weiterverfolgen, "bis die Panzer rollen", verlautete aus Washingtoner Regierungskreisen. Die Außenminister Russlands und der USA, Sergej Lawrow und Antony Blinken, wollen sich aber am Donnerstag in Genf treffen.

Russland sei sich im Klaren darüber, dass der Schritt angesichts der vom Westen angedrohten Sanktionen ernste Folgen haben werde, sagte der stellvertretende Vorsitzende des russischen Sicherheitsrats, Dmitri Medwedew. Es gebe angesichts der Lage aber keine andere Möglichkeit, als die Gebiete anzuerkennen. Der Druck auf Russland werde beispiellos sein. Die Hoffnung sei, dass sich der Konflikt danach abkühle.

Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die in der Ostukraine eine Beobachtermission unterhält, verurteilte die Anerkennung der selbst ernannten ostukrainischen Volksrepubliken Donezk und Luhansk durch Russland als unabhängige Staaten scharf. "Die Anerkennung wird nur weitere Spannungen schüren und wird die Bevölkerung, die in diesen Regionen lebt, vom Rest ihres Landes, der Ukraine, entzweien", heißt es in einer Mitteilung. "Dieser Schritt ist ein Verstoß gegen internationales Recht und gegen fundamentale OSZE-Prinzipien." Zudem widerspreche er dem 2015 für die Ostukraine geschlossenen Minsker Friedensplan.

Das verbliebene Botschaftspersonal der Vereinigten Staaten in der Ukraine wurde nach Ankündigung Blinkens aus Sicherheitsgründen für zunächst eine Nacht von Lwiw (Lemberg) ganz im Westen der Ukraine nach Polen verlegt.