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Terror in Wien: Im Dunkel der Nacht

Die Stunden und Tage vor dem Terrorattentat in der Wiener Innenstadt geben weiterhin Rätsel auf. Neue Details gehen aus dem Ermittlungsakt hervor, den profil fast zur Gänze einsehen konnte.

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Dieser Artikel erschien im profil Nr. 49 / 2020 vom 29.11.2020.


Die Stunden und Tage vor dem Terrorattentat in der Wiener Innenstadt geben weiterhin Rätsel auf. Neue Details gehen aus dem Ermittlungsakt hervor, den profil fast zur Gänze einsehen konnte.

Die Aufnahme der nächtlichen Autofahrt dauert keine zehn Sekunden. Man hört harten albanischen Rap von Nush. "Ak47" heißt der Song. Das Cockpit ist schwarz. Eine männliche Hand greift zum Schaltknüppel. Dann zoomt die wackelige Kamera auf das Sturmgewehr zwischen den Beinen des Beifahrers.

Das kurze Video ist eine von vielen Merkwürdigkeiten im Ermittlungsakt zum Terroranschlag vom 2. November in Wien, den profil nun fast zur Gänze eingesehen hat. Vielleicht ist es ein Schlüssel. Bis heute ist nicht klar, wie der Attentäter mit Sturmgewehr, Machete, Pistole und Sprengstoffgürtel-Attrappe in die Innenstadt gelangte. Laut Bundeskriminalamt handelt es sich bei der Waffe im Video um eine "vermutlich baugleiche ZASTAVA M70", wie sie der Attentäter verwendete. Das Auto sei "vermutlich ein BMW".

Gepostet wurde die Filmsequenz in zwei WhatsApp-Chatgruppen. Eine nennt sich "Mischgruppe", die andere "23". Ein Gruppenmitglied, der 21-jährige N. B., war in den Wochen vor der Tat mit dem Attentäter in Kontakt; weil auf seinen Namen ein schwarzer BMW 320i zugelassen ist, scheint er den Ermittlern verdächtig: "Es besteht der Verdacht, dass B. der Lenker des Videos ist und ein Zusammenhang zu K. F. besteht", notierten sie. Derjenige, der das mysteriöse Video der Polizei übermittelte, wurde noch am Terrorabend befragt. Er soll - gemeinsam mit fünf weiteren Jugendlichen - den Attentäter "kurz vor dem Anschlag zwei Mal im Bereich Seitenstettengasse" gesehen haben, bevor sich die Gruppe zum Lokal Kaktus bewegte.

Inzwischen wurde nicht nur B. befragt, sondern alle Beschuldigten. Mit jedem Tag fügen sich neue Puzzleteile ins Bild. Wer war wo in den Stunden vor und nach dem Anschlag, bei dem vier unschuldige Passanten in der Partyzone der Wiener Innenstadt ermordet und über 20 verletzt wurden? Noch in derselben Nacht ordnete die Staatsanwaltschaft ein Dutzend Festnahmen und Hausdurchsuchungen an. Laptops wurden konfisziert, USB-Sticks, Spielkonsolen, Bücher, IS-Devotionalien, Barmittel und jede Menge Handys. Sie sollen über Monate zurück ausgelesen werden. "Die Beteiligung einer zweiten Person an den unmittelbaren Anschlagsorten kann aufgrund des aktuellen Ermittlungsstandes nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden", heißt es im "1. Anlass-Bericht" an die Staatsanwaltschaft vom 5. November. Das Bild ist längst noch nicht vollständig.

Auch die Vorgeschichte zur Terrornacht findet sich im Akt. Sie wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Eine von Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) eingesetzte Untersuchungskommission soll sie schonungslos aufarbeiten. Bekanntlich war der Täter für die Behörden kein unbeschriebenes Blatt: Nach profil-Informationen wurde K. F. nach seiner bedingten Haftentlassung im Dezember 2019 mindestens ein Mal vom Verfassungsschutz einvernommen und zu Personen aus der Szene befragt. Seitens der Landespolizeidirektion Wien bestätigt man, dass im Jänner 2020 "eine Gefährderansprache durchgeführt wurde". Das Innenministerium hatte betont, K. F. sei jedenfalls kein "Informant" des Verfassungsschutzes gewesen. Im Februar wurde dem späteren Attentäter der Reisepass entzogen. Wie die MA62 gegenüber profil bestätigt, bemühte sich K. F. um einen Personalausweis; der Sachbearbeiter sah im Register, dass der 20-Jährige wegen Terrorismus vorbestraft war - verwehrte ihm die Ausstellung und veranlasste den Einzug des Reisedokuments.


Im heurigen Sommer alarmierten schließlich ausländische Partnerdienste. Das deutsche Bundeskriminalamt avisierte dem BVT in Wien die Einreise zweier amtsbekannter Islamisten. Zwei Salafisten aus Kassel und Osnabrück hatten für den 16. Juli ein Flugticket von Dortmund nach Wien gelöst. Die personellen Verstrickungen ziehen sich über nationale Grenzen und sind schwer zu überblicken. Am 16. Juli waren die Überwacher des LVT jedenfalls am Posten. Eine Kamera filmte die ankommenden Besucher und das Empfangskommittee. Die Besucher wurden "in die Wohnung des (späteren Attentäters) F." gefahren. Im Laufe der mehrtägigen Wien-Visite erhielt die Clique Zuwachs. Bald stachen den polizeilichen Spähern auch zwei Männer ins Auge, die in einem Audi A3 aus der Schweiz anreisten und laut dortigen Sicherheitsbehörden der "Islamistenbewegung im Raum Winterthur angehören". K. F., der spätere Attentäter, traf die Gesinnungsfreunde von auswärts gleich mehrmals. Am 20. reisten sie ab. Tags darauf versuchte er, sich in einem Waffengschäft in Bratislava mit 7,62 x 39 mm-Munition für ein AK47-Sturmgewehr einzudecken. Bekanntlich informierten über den versuchten Munitionskauf die slowakischen Behörden - doch bis man in Österreich konkrete Schritte gegen K. F. zu setzen erwägte, vergingen Monate. Das BVT dürfte die Hinweise aus der Slowakei mehrere Wochen verschleppt haben - erst Ende August landeten die Fakten beim zuständigen Landesamt in Wien. Ein kundiger Beamter identifizierte K. F. auf Fotos der Überwachungskamera des Waffengeschäftes binnen weniger Tage. Eine abermalige Rückfrage an die slowakischen Behörden sei erst im Oktober beantwortet worden, heißt es. Laut Akten seien Maßnahmen gegen K. F. ab Mitte Oktober geplant gewesen; eine großangelegte Razzia gegen das Netzwerk der Muslimbrüder habe aber Vorrang gehabt.

K. F.s verhaftete Bekannte stellen eine Komplizenschaft jedenfalls vehement in Abrede. Gegen zehn Verdächtige wurde die Untersuchungshaft vergangenen Donnerstag verlängert; zumindest acht der Beschuldigten kündigten Beschwerde vor dem Oberlandesgericht an. Ein bisher unbescholtener 21-Jähriger wandte sich mit einem handgeschriebenen Brief an die Medien: "Ich sitze hier in einer kalten und farblosen Zelle (...) Ich möchte einfach nur mein normales Leben zurück, habe mir nie etwas zu Schulden kommen lassen." In den Vernehmungen hören die Ermittler von Scheidungen, prügelnden Vätern, abgebrochenen Bildungslaufbahnen, prekärer Arbeit, dschihadistischen Bekanntschaften, die im Park, im Fitnesscenter und in radikalen Moscheen geschlossen werden, immer wieder von belanglosen Gesprächen, in denen es angeblich nie um Waffen oder gar Anschlagspläne geht. So erzählt der erwähnte N. B., er habe zwei Wochen vor dem Anschlag den 20-Jährigen außerdem bei einem Abendessen in der Wohnung von K. auf seinen "auffälligen Bart" angesprochen und erfahren, "dass er ein Haarwuchsserum verwende". Weil er dieses Mittel auch wollte, habe er ihn "drei oder vier Tage vor dem Anschlag" über Whats-App angeschrieben. Bei einer weiteren Einvernahme rückt B. die Aussagen zurecht: Die Freunde seien zwei Wochen vor dem Anschlag auf ein Eis gegangen. Damals war der Attentäter noch Teil der Runde. An diesem Abend habe K. F. ihm das Haarwuchsmittel geschenkt, wofür er sich mit einer Essenseinladung erkenntlich zeigen wollte. Deshalb habe er ihn kurz vor der Terrorattacke noch kontaktiert. Den Chatverlauf habe er gelöscht. Oder G.: Er lebt in St. Pölten, pendelte zum Gebet in die radikale Tehwid-Moschee in Wien-Meidling und wurde vor drei Jahren wegen Verdachts auf terroristische Vereinigung festgenommen. Wenige Tage vor dem Anschlag habe der spätere Attentäter ihn in eine Moschee in Wien-Flordisdorf bestellt. Und? K. F. habe gefragt, "ob ich mich mit Inkasso auskenne. Was passiert, wenn Inkasso kommt. Er hat mir erzählt, dass er seine Wohnung nicht bezahlt habe." Ein Einziger gibt zu Protokoll, K. F. habe ihm anvertraut, "dass es sein Traum sei, sich mit einem Sprengstoffgürtel in die Luft zu sprengen".

Wo wart ihr am Sonntag, am Abend davor? Wo wart ihr am Montag, als es passierte? Die Polizei hat alle gefragt. Einige geben an, daheim gewesen zu sein, als in der Wiener Innenstadt die Schüsse fielen. Andere waren in einem Sushi-Lokal im 23. Bezirk essen. K., der am Nachmittag des 2. November dem Attentäter ein Buch zurückbrachte, war mit Freunden bei einem Dönerladen am Schöpfwerk. Einer habe K. F.s Foto hergezeigt: "Schaut mal, wer das ist." Daraufhin sei die Runde zu ihrem Treffpunkt in der Steinergasse aufgebrochen, wo B.s Mutter auf sie gewartet habe und sich bald weitere Jungs blicken ließen. Einer habe "mit einer Hand gegen die Wand geschlagen, weil er dachte, ich sei bei dem Anschlag dabei gewesen" und habe ihn umarmt. Ein anderer habe geweint: "Wie können wir jetzt seine Eltern anschauen? Ich kenne seine ganze Familie." Die Mutter des Attentäters sah ihren Sohn zum letzten Mal, als er am Sonntag gegen 22 Uhr die elterliche Wohnung verließ, und erklärte, bei K. übernachten zu wollen. Es handelt sich um denselben K.,der ihm - gemeinsam mit B. - am Sonntag das erwähnte Buch zurückbrachte. Etwa zehn Minuten seien sie im Gang gestanden, man habe über "Alltagssachen gesprochen: Wo wirst du essen und sowas." K. und B. hätten wie jeden Montag und Donnerstag, gefastet. "Ich werde jetzt Thunfisch essen", habe K. F. erklärt, bevor er in seine Wohnung zurückgegangen sei.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges

Stefan   Melichar

Stefan Melichar

ist Chefreporter bei profil. Der Investigativ- und Wirtschaftsjournalist ist Mitglied beim International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ).