Mittwoch, 8.45 Uhr, Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Wien: Die Septembersonne blitzt durch die geschlossenen Lamellen in den Operationssaal, als Anästhesistin Antonia Artner noch einmal alle Werte ihrer Patientin überprüft. Diese liegt bereits in Narkose, sie atmet ruhig, nur der Rücken der 85-Jährigen ragt aus den grünen Tüchern hervor. Christian Neumann, Leiter der Abteilung für Radiologie und Nuklearmedizin, klebt kleine blaue Noppen auf die Haut. Sie reflektieren jede noch so kleine Bewegung der Patientin für eine Kamera – damit sind sie die direkte Verbindung zu Neumanns neuer Assistentin: der künstlichen Intelligenz mit dem komplizierten Namen CAS-One IR.
Seit Juli 2024 begleitet die KI viele Eingriffe des Radiologie-Teams um Neumann und seine Stellvertreterin Sabine Fleischhackl. Die Hauptaufgabe der Maschinenintelligenz: Sie soll den optimalen Weg eines chirurgischen Instruments in den menschlichen Körper finden – etwa zu schwer erreichbaren Tumoren in Niere oder Leber. Die sogenannte interventionelle Radiologie behandelt aber auch erweiterte Beckenvenen, eine häufige Ursache für chronische Bauchschmerzen von Frauen; Blutgerinnsel in Hirnarterien bei einem akuten Schlaganfall; erweiterte Blutgefäße in einer vergrößerten Prostata, um diese zu schrumpfen. Oder, in Christian Neumanns Worten: „Außer dem Herzen machen wir alles. Von der Locke bis zur Socke.“
Die Noppen reflektieren jede Bewegung der Patientin in eine Kamera.
Aber wie arbeitet die Medizin-KI? Wie sicher ist die Operationsmethode? Was sind die Vor- und Nachteile für die Patientinnen und Patienten? Und werden die Maschinen die OPs irgendwann übernehmen? profil war bei einer Tumortherapie mit KI-Unterstützung in einem der technisch fortschrittlichsten Operationssäle Österreichs dabei.
Mittlerweile ist es 9.00 Uhr im OP der Barmherzigen Brüder. Die Noppen sind auf dem Rücken der Patientin platziert, da ruft Neumann: „Antonia, wir brauchen einen Atemstillstand. Bitte alle raus aus dem Raum!“ Anästhesistin Artner stoppt kurz die Atmung der Patientin, und alle sehen durch eine Glasscheibe zu, wie sich der OP-Tisch langsam in die CT-Röhre im hinteren Teil des Operationssaals schiebt.
Anästhesistin Antonia Artner sorgt immer wieder kurz dafür, dass die Niere der Patientin völlig still liegt.
Über der Tür leuchtet eine Warnlampe mit der Aufschrift „Achtung Strahlung“. Als die ersten Scans auf dem Computer von Radiologietechnologin Melanie Niyazov erscheinen, setzt Artner die Beatmung fort. Die Sauerstoffsättigung der Patientin ist durch den kurzen Stopp kaum gesunken. Dafür lag ihre Niere völlig still, die Scans sind gestochen scharf.
Ein präziser Stich in die Niere
Wieder bei der Patientin, sieht Christian Neumann der KI gespannt beim Denken zu. Über dem OP-Tisch hängen zwei Bildschirme, die den wenige Zentimeter großen Tumor zeigen. Er liegt wie eine kleine helle Kugel in der linken Niere. Entdeckt worden war er durch Zufall bei einer Routineuntersuchung im Frühsommer – seither hat er sich kaum verändert. Die KI vermisst nun die Niere auf den Millimeter genau, deren Abstand zum benachbarten Dickdarm und den Tumor selbst. Schließlich taucht ein blauer Stichkanal auf. Exakt hier, in diesem Winkel und zehn Zentimeter tief muss Neumann die erste von zwei Nadeln setzen. Er wischt konzentriert durch die 3D-Bilder, merkt sich die Position von Organen, Blutgefäßen, Bauchwand. In Gedanken bahnt er sich bereits den optimalen Weg zum Tumor. Wie ein Skifahrer, der vor dem Start im Geist die Rennstrecke durchgeht.
Sein Ziel: das bösartige Geschwür direkt im Körper zu vereisen – und damit zu zerstören. Er muss den Rücken der Patientin dafür nicht öffnen, den Krebsherd nicht herausholen. Bei einer Tumorgröße von bis zu vier Zentimetern funktioniert das in der Regel tadellos.
Um 9.10 Uhr führt Neumann die erste, 15 Zentimeter lange Nadel ein. Das dauert nur wenige Sekunden. Dann ertönt wieder das Kommando: „Alle bitte raus aus dem Raum!“ Wieder ein kurzer Atemstillstand, damit die Niere ruhig liegt, ein weiterer Scan, dann steht fest: Neumann hat den Tumor genau getroffen. Jetzt stanzt er eine Gewebeprobe heraus, dann widmet er sich dem Darm. Er leitet Kochsalzlösung in den Bauchraum und erzeugt damit einen Puffer zwischen dem kälteempfindlichen Dickdarm und der Niere. Um 9.58 setzt er die zweite Nadel. Auch sie liegt auf Anhieb richtig.
Platzende Tumorzellen
„Jetzt wird unsere Patientin zur Eiskönigin“, scherzt Operateur Neumann. Das Team entspannt sich, in der nächsten halben Stunde arbeiten die Nadeln fast selbständig. Bei der sogenannten Kryoablation strömt Argon-Gas in die Nadelspitzen, welche das umliegende Tumorgewebe binnen weniger Sekunden in einen Eisball verwandeln. Zehn Minuten lang herrschen rund um die Nadeln minus 40 Grad, dann werden die Krebszellen für zehn Minuten wieder aufgetaut. Dadurch sickert Wasser in die Zellen nach.
Dann folgt der endgültige Todesstoß: Noch einmal auf minus 40 Grad schockgefroren, bilden sich Eiskristalle, wodurch die Zellen schließlich platzen. Das Geschwür ist zerstört, der Körper wird das tote Gewebe einfach abbauen. Um 10.40 ist der Großteil der Operation geschafft.
Operateur Christian Neumann schiebt die zweite Nadel in die Niere. Die KI hat ihm den Weg zum Tumor vorgezeichnet.
Wie wäre die OP ohne KI verlaufen?
„Die Prozedur hätte viel länger gedauert“, sagt Neumann. Bevor die künstliche Intelligenz ihn unterstützte, musste sich der Radiologe mit jeder Nadel Millimeter für Millimeter vortasten, immer wieder nachjustieren, weil die locker im Körper sitzende Niere bei diesem Schneckentempo immer wieder auswich. Nach jedem dritten Millimeter für das CT den Raum zu verlassen, war viel zu umständlich. Also blieb das Team während der Aufnahmen mit bis zu 15 Kilo schweren Bleiwesten im Saal.
Heute verlassen sich Neumann und seine Kolleginnen auf die KI. Ein schneller Stich, und die Nadel sitzt. „Das ist bei Eingriffen dieser Art ein echter Gamechanger“, sagt Neumann.
„Die KI ist bei Eingriffen dieser Art ein echter Gamechanger.“
Christian Neumann, Primar der Abteilung für Radiologie und Nuklearmedizin im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Wien
Und wie fühlt man sich als Patient? Peter Steiner* lag vor sieben Wochen auf demselben Tisch. Seinem Urologen war bei der Harnprobe aufgefallen, dass eine Niere nicht richtig arbeitete. Ultraschall und CT brachten Gewissheit: In Steiners linker Niere saß ein kleiner Tumor. Also schlug der Urologe das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder vor. „Muss das sein, dass Sie mich aufspießen?“, fragte der 82-jährige Neumann beim Vorgespräch. Doch der Mediziner hatte ihn schnell überzeugt. Die Alternative wäre ein großer Schnitt gewesen, um an die Stelle heranzukommen. Dass eine Maschine den Weg zum Geschwür präzise berechnen würde, fand Steiner „absolut beruhigend“.
Patient: „Null Schmerzen“
Einen Tag nach der OP ging er nach Hause. „Ich hatte null Schmerzen“, berichtet Steiner. Nur drei minimale Einstichstellen und ein blauer Fleck zeugten von der OP, sie waren schnell verschwunden. „Bei mir werden Sie keine Narbe finden. Ich sehe unberührt aus wie ein junger Bursch“, scherzt der Pensionist.
Neumann ist kein Chirurg, wie man vermuten würde, sondern Radiologe und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Interventionelle Radiologie (ÖGIR). 2000 Eingriffe führen er und sein Team pro Jahr durch – quer durch fast alle Disziplinen. Die sogenannte interventionelle Radiologie ist ein schnell wachsendes Spezialgebiet innerhalb der Radiologie, das viele minimalinvasive Therapien bietet. Die KI spielt dabei eine tragende Rolle.
KI bei Melanomen und Leukämie
Und nicht nur dort. Die künstliche Intelligenz ist Meisterin darin, Muster zu erkennen. Im Wiener AKH steht ein Ganzkörperscanner (hier die profil-Reportage dazu), der die gesamte Hautoberfläche fotografiert und binnen weniger Minuten einen Avatar des Patienten in 3D erstellt. Dann kommt die KI zum Einsatz. Sie geht den Ärztinnen und Ärzten bei der Früherkennung zur Hand. Studien zeigten: Die Kombination aus Medizinerin und Maschine ist bei der Diagnose und Behandlung von Melanomen unschlagbar.
Ein Wiener Forschungsteam entwickelte zuletzt ein KI-Modell, das den Erfolg von Chemotherapien bei Leukämie-Patientinnen vorhersagen kann. Der Onkologe Kaan Boztug von der St. Anna Kinderkrebsforschung zeigte sich im ORF-Interview begeistert. „Das ist für mich persönlich beeindruckend. Ich habe früher immer gesagt, wenn Eltern fragen, ob das Kind denn auf die Therapie ansprechen wird: Ich bin kein Hellseher. Jetzt auf einmal ist es so, dass wir eine Methode haben, wo wir das innerhalb von ein, zwei Tagen ziemlich präzise vorhersagen können.“
Risikoprognosen: Welche Krankheiten erwarten mich?
Mitte September sorgte eine KI namens Delphi-2M weltweit für Schlagzeilen. Sie soll für mehr als 1000 Krankheiten das individuelle Risiko vorhersagen – bis zu 20 Jahre im Voraus. Wie nah sind solche Prognosen dem klinischen Alltag? „Wir reden hier noch von Zukunftsmusik. Bei allen Potenzialen dürfen wir uns nicht in eine KI-gestützte Glaskugelschau verrennen – auch die besten Modelle erkennen Muster, aber sie sagen keine Zukunft voraus. Für die Patienten muss klar sein: Solche Prognosen sind keine Schicksalsurteile“, sagt Robert Ranisch, Professor für Medizinische Ethik mit Schwerpunkt auf Digitalisierung an der Universität Potsdam. Die KI könne aber sehr wohl Anhaltspunkte für Präventions- oder Therapieentscheidungen geben, so Ranisch.
Die Nadelspitzen vereisen den Tumor direkt im Körper, hier ein Probedurchgang.
Tumor zerstört, Patientin geheilt
Zurück in den OP im 2. Wiener Gemeindebezirk. Es ist mittlerweile 10.41 Uhr, und Christian Neumann zieht langsam die erste Nadel aus dem Rücken der Patientin. Die Nadelspitze ist nun 100 Grad heiß. Die Hitze verödet den Kanal und verhindert Blutungen. Kurze Zeit später ist auch die zweite Nadel entfernt, zu sehen sind nur zwei kleine Kratzer auf der Haut. Einmal noch fährt die Patientin ins CT zur Kontrolle. Der Bildschirm zeigt es schwarz auf weiß: Der Tumor ist zerstört, die Patientin geheilt. Sie wird morgen nach Hause gehen.
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Franziska Dzugan
schreibt für das Wissenschaftsressort, ihre Schwerpunkte sind Klima, Medizin, Biodiversität, Bodenversiegelung und Crime.