Wie die erste Therapie gegen Erdnussallergie wirkt
Wer an einer Erdnussallergie leidet, lebt gefährlich. Nun gibt es endlich eine Therapie für Kinder. Wie sie wirkt – und wie man Allergien auf Lebensmittel vorbeugen kann.
Milena war drei Jahre alt, als sie im Kindergarten ihren ersten Erdnussflip aß. Es dauerte 30 Sekunden, bis das Gesicht des Mädchens völlig zugeschwollen und mit Ausschlag übersät war. „Sie sah aus, als hätte sie gegen die Klitschko-Brüder gekämpft“, sollten die Kindergärtnerinnen später berichten. Milena wurde von Sekunde zu Sekunde schwächer, dann war sie bewusstlos. Die Betreuerinnen riefen den Vater an, der zwei Straßen weiter im Homeoffice arbeitete. Als er eintraf, war Milena zum Glück bereits wieder ansprechbar. Er fuhr mit dem Mädchen in die Kinderklinik, wo schnell feststand: Milena hatte einen allergischen Schock, eine sogenannte Anaphylaxie, erlitten. Im Nachhinein betrachtet hätten die Kindergärtnerinnen sofort die Rettung rufen müssen, sagt Milenas Mutter Nadine im profil-Gespräch. „Ein allergischer Schock ist ein Notfall, da darf man nicht zuwarten.“
Es gibt viele Betroffene wie die heute 14-jährige Milena. Sechs bis acht Prozent der Kinder in Europa leiden an Nahrungsmittelallergien, die meisten reagieren allergisch auf Kuhmilch, Eier, Krustentiere, Nüsse sowie Erdnüsse (die zu den Hülsenfrüchten zählen und botanisch gesehen keine Nüsse sind). Bei Erwachsenen sind etwa vier Prozent betroffen, Tendenz steigend. Laut der Medizinischen Universität Wien hat sich die Anzahl der Nahrungsmittelallergikerinnen und -allergiker im vergangenen Jahrzehnt verdoppelt. Die Anzahl schwerer allergischer Reaktionen mit Spitalaufenthalt hat sich sogar versiebenfacht.
Erdnüsse können von allen Nahrungsmitteln die schwersten Reaktionen hervorrufen. Nun gibt es endlich die erste zugelassene Therapie für Erdnuss-Allergikerinnen. Wie wirkt sie? Für wen kommt sie infrage? Und besteht die Hoffnung, bald auch andere Nahrungsmittelallergien damit behandeln zu können?
Erdnüsse (zählen zu den Hülsenfrüchten), Baumnüsse, Eier, Kuhmilch und Krustentiere
Allergie oder Intoleranz?
Eva Untersmayr-Elsenhuber leitet an der MedUni Wien das Projekt „Nahrungsmittelallergie – eine harte Nuss zu knacken“. Was passiert eigentlich bei einer Allergie? „Der Körper reagiert überschießend auf einen ungefährlichen Fremdstoff und bildet die sogenannten IgE-Antikörper, die eine Immunreaktion auslösen“, erklärt Untersmayr-Elsenhuber. Die Beschwerden können von leichtem Brennen oder Schwellungen im Mund über Übelkeit bis zu Atemnot oder Kreislaufversagen im anaphylaktischen Schock reichen.
Allergien sind nicht zu verwechseln mit Intoleranzen, bei denen das Immunsystem nicht beteiligt ist. Hierbei hat der Körper nicht genug von bestimmten Enzymen oder Transportproteinen, um Laktose, Fruktose und Histamin abzubauen oder in den Körper aufzunehmen. Die Beschwerden können mit Durchfällen, Bauchschmerzen und Blähungen sehr unangenehm sein – schwere Immunreaktionen gibt es bei Intoleranzen jedoch nicht.
Die Zahl schwerer allergischer Reaktionen mit Spitalsaufenthalt hat sich in den vergangenen 10 Jahren um das 7-Fache gesteigert.
Nach dem Vorfall mit dem Erdnussflip begriff die Familie erst nach und nach, wie sehr Milenas Allergie den Alltag bestimmen würde. „Der tägliche Einkauf wurde zur großen Herausforderung“, erzählt ihre Mutter Nadine. Jede Verpackung musste überprüft werden: Produkte mit der Aufschrift „Kann Spuren von Erdnüssen enthalten“ waren tabu, aber auch bei jenen ohne diesen Hinweis konnte sich Nadine nie sicher sein. Denn für Spuren, die entstehen, wenn in einer Fabrik zum Beispiel zuvor Kekse mit Erdnüssen übers Fließband gelaufen sind, gibt es in der EU keine Kennzeichnungspflicht.
Nadine engagiert sich für den deutschen Verein Nuss/Anaphylaxie Netzwerk NAN, der unter anderem Lebensmittelhersteller zu Spuren von allergenen Inhaltsstoffen befragt und Listen mit sicheren Produkten erstellt. Außerdem organisiert der Verein immer wieder Treffen mit allergenfreien Buffets. „Für viele Kinder ist das häufig das erste Mal, dass sie sorgenfrei alle Speisen probieren können“, sagt Nadine.
Die Pulver-Therapie
Ihre Tochter reagierte bis vor Kurzem sogar auf Erdnussspuren in der Luft. Einmal stand sie mit ihrer Mutter an der Supermarktkasse, als ihre Augen zu brennen und die Nase zu laufen begann. Es wurde so schlimm, dass Milena den Supermarkt verlassen musste. Der Grund: Jemand hinter ihr in der Schlange hatte ein Netz mit ungeschälten Erdnüssen aufs Band gelegt. In Milenas Klasse wissen alle Kinder: Erdnüsse sind in der Schule tabu. Ohne Adrenalin-Pen, den man ihr im Notfall in den Oberschenkel geben kann, verlässt das Mädchen nicht das Haus. „Trotzdem war jeder Kindergeburtstag, jede Klassenfahrt, jeder Restaurantbesuch eine Herausforderung“, sagt Mutter Nadine.
Deshalb entschieden sich Milena und ihre Familie 2024 für eine Desensibilisierungstherapie. Diese ist in der EU für Kinder zwischen dem 1. und 17. Lebensjahr zugelassen. Das Pulver namens Palforzia enthält kleine, genau dosierte Mengen Erdnussprotein.
Die erste Dosis von drei Milligramm bekam Milena im März 2024 im Spital unter strenger Beobachtung. Ihr wurde ein wenig übel – ansonsten passierte nichts. Ein großer Erfolg. Seither mischt sich Milena täglich abends Erdnusspulver ins Apfelmus.
Erdnusspflaster
Palforzia funktioniert nach demselben Prinzip wie die Desensibilisierung bei Insekten- oder Pollenallergikern, die es schon seit Langem gibt. Der Körper wird regelmäßig mit dem Allergen konfrontiert und lernt langsam, immer größere Mengen davon zu tolerieren. Weil zehn bis 20 Prozent der Patientinnen die Therapie wegen zu heftigen Reaktionen abbrechen müssen, testete man zuletzt auch eine Verabreichung über die Haut. Die Erdnuss-Pflaster wirken gut, wie eine klinische Phase-3-Studie mit 362 Kleinkindern zwischen dem 1. und 3. Lebensjahr zeigte. „Bei 67 Prozent der behandelten Kleinkinder beobachteten wir eine Desensibilisierung. In der Kontrollgruppe hingegen waren es nur halb so viele“, sagt Thomas Eiwegger, Leiter der Klinischen Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde des Universitätsklinikums St. Pölten, der an der Studie beteiligt war.
Könnten bald Therapien für andere Nahrungsmittelallergien folgen? „Die Chancen stehen gut“, sagt Eva Untersmayr-Elsenhuber von der MedUni Wien. Zumal in auf Allergien spezialisierten Kliniken die Desensibilisierung bereits auch bei anderen Lebensmitteln angewandt wird – allerdings ohne standardisierte, als Medikament zugelassene Allergenpräparate.
Woher Allergien kommen
Woher kommen Nahrungsmittelallergien eigentlich – und warum nehmen sie dermaßen zu? Ganz genau weiß man das noch nicht, es gibt jedoch mehrere Faktoren, die das Risiko erhöhen. Wer einen betroffenen Elternteil hat, dessen Chance, ebenfalls eine Allergie zu entwickeln, steigt auf 30 Prozent. Sind Vater und Mutter betroffen, ist das Risiko sogar um 60 bis 70 Prozent erhöht. Ebenfalls im Verdacht stehen übertriebene Hygiene und die Ernährung mit hoch verarbeiteten Lebensmitteln, die das Darmmikrobiom verändern können.
Allergien beginnen häufig im Kindesalter. Können sie mit steigendem Alter auch wieder verschwinden? „Bei Eiern und Kuhmilch passiert das öfter, bei Erdnüssen haben nur 20 Prozent der Betroffenen das Glück, die Allergie im Lauf des Lebens zu verlieren“, sagt Medizinerin Untersmayr-Elsenhuber.
Fast keine Erdnussallergien in Israel
Die Erkenntnis, wie früh Allergien beginnen, verdankt die Welt dem britischen Immunologen Gideon Lack – und den Erdnussflips der Marke Bamba. Lack hielt Anfang der Nullerjahre einen Vortrag über Nahrungsmittelallergien in Tel Aviv, im Publikum saßen israelische Kinderärztinnen und Allergiespezialisten. Er fragte in die Menge: „Wer von Ihnen hat bereits Kinder mit Erdnussallergie behandelt?“ Er erwartete, dass fast alle Hände in die Höhe schnellen würden, wie das bei seinen Vorträgen in Großbritannien stets der Fall war. Aber es zeigte kaum jemand auf.
Lack konnte es kaum glauben und begann diesen gravierenden Unterschied zu erforschen. Das Ergebnis einer Studie mit mehr als 10.000 Kindern in beiden Ländern ergab: Die Allergierate unter den britischen Kindern war zehn Mal so hoch wie jene unter den israelischen. Der Grund: Die meisten israelischen Kinder nuckelten, bevor sie ein Jahr alt waren, regelmäßig an einem Erdnuss-Snack namens Bamba. In Großbritannien und den USA hatten Kinderärzte die Eltern hingegen jahrzehntelang davor gewarnt, ihren Kindern vor dem Alter von drei Jahren allergene Nahrungsmittel zu füttern. Ein gut gemeinter, aber vollkommen falscher Rat, wie sich herausstellen sollte.
In Israel bekommen Kinder schon früh den beliebten Erdnusssnack Bamba. Offenbar hilft das gegen die Allergie.
Vermeidung ist nicht die beste Strategie
Um seine Theorie zu untermauern, bat Gideon Lack im Jahr 2012 640 Babys zwischen vier und zehn zum Härtetest. Alle Kinder litten bereits an schweren Ekzemen, einer Eiallergie oder an beidem, jedoch (noch) nicht an einer Erdnussallergie. Ihre Vorgeschichte prädestinierte die Kinder aber geradezu für eine spätere Erdnussallergie. Die Hälfte der Eltern bat der Forscher, bis ins Alter von fünf Jahren auf Erdnüsse zu verzichten; die andere Hälfte sollte ihren Kindern regelmäßig Erdnussbutter oder Bamba zu essen geben.
Das 2015 veröffentlichte Ergebnis sprach Bände: In der Vermeidungsgruppe entwickelten 13,7 Prozent der Kinder eine Allergie, in der Bamba-Gruppe nur 1,9 Prozent. 2024 testete Lack die mittlerweile Zwölfjährigen noch einmal. Der Effekt war geblieben. „Eine frühe Konfrontation mit Erdnüssen schützt überwältigend gut vor einer Allergie“, sagte Gideon Lack kürzlich dem Magazin „Scientific American“. In Großbritannien und den USA ist man durch Lacks Studien davon abgerückt, den Verzicht von bestimmten Nahrungsmitteln unter drei Jahren zu predigen.
Prävention schon beim Säugling
Auch die Wiener Spezialistin Untersmayr-Elsenhuber rät, möglichst früh neben dem Stillen mit der Beikost anzufangen. „Je nach Entwicklung und Interesse des Kindes zwischen Beginn des fünften Lebensmonats und bis spätestens Ende des sechsten Lebensmonats.“ Außerdem sollten Frauen während Schwangerschaft und Stillzeit keine allergenarme Diät halten (außer natürlich, sie leiden an einer Allergie).
Prävention im Säuglingsalter ist also einer der Schlüssel gegen die steigende Zahl an Nahrungsmittelallergien. Was aber ist mit erwachsenen Erdnussallergikern? Bei ihnen ist die Desensibilisierungstherapie bislang noch nicht zugelassen, aber Studien dazu laufen.
Milena nimmt ihre tägliche Dosis Erdnusspulver nun seit fast 1,5 Jahren. Die Mengen wurden sukzessive gesteigert, seit Dezember 2024 mischt sie jeden Abend die sogenannte Erhaltungsdosis von 300 Milligramm in ein wenig Apfelmus. Die größte Herausforderung ist das Timing: Die Teenagerin darf zwei Stunden vor und nach der Einnahme des Pulvers keinen Sport treiben, nicht duschen und zwei Stunden danach nicht schlafen. Sport und heißes Duschen würden den Kreislauf zu sehr belasten, und im Schlaf würden sie oder ihre Eltern womöglich eine Immunreaktion übersehen.
Milena hält durch – für ein besseres Leben
Als Milena kürzlich krank war, konnte sie das Pulver drei Tage lang nicht einnehmen. Dann zwang sie sich unter Würgereiz und Übelkeit doch wieder dazu. Denn ein längeres Aussetzen der Therapie hätte sie um Monate zurückgeworfen. Nach fünf Tagen Pause hätte sie mit der halben Dosis wieder beginnen müssen – und zwar unter Aufsicht in der Klinik.
Auch wenn es ihr oft schwerfällt und ihr mittlerweile auch vor Apfelmus graut, das sie früher liebte: Milena hält durch. Das Risiko, wegen minimaler Spuren im Essen zusammenzubrechen, ist heute deutlich kleiner. Den endgültigen Beweis wird in den nächsten Jahren ein Provokationstest liefern. Dabei werden im Spital immer größere Mengen Erdnusspulver verabreicht, bis Symptome auftreten – oder eben nicht. In Studien konnten viele Kinder nach der Therapie problemlos drei bis vier Nüsse vertragen. Für Milena wäre das ein Traum.
Als sie vergangenen Sommer auf Klassenfahrt in England bei einer Gastfamilie übernachtete, hatte sie ihre gesamte Verpflegung im Koffer dabei. „Wir hoffen, dass sie irgendwann ohne Angst und Übergepäck reisen kann“, sagt ihre Mutter Nadine. „Völlig frei und unbeschwert.“
Newsletter
Drucken
(profil.at, 44,30)
|
Stand:
Franziska Dzugan
schreibt für das Wissenschaftsressort, ihre Schwerpunkte sind Klima, Medizin, Biodiversität, Bodenversiegelung und Crime.