Asma Mustafa ist 39 Jahre alt, sie hat zwei Töchter und arbeitete vor dem Krieg in Gaza als Lehrerin. Im Jahr 2020 wurde sie mit dem indischen AKS Education Award als weltbeste Lehrerin ausgezeichnet. Seit Mai steht profil in Kontakt mit ihr und berichtet regelmäßig über Mustafas Leben und Überleben in Gaza.
Diesmal erzählt Asma Mustafa, wie sich ihr Alltag seit dem Waffenstillstand im Gazastreifen verändert hat. profil erreicht sie im Flüchtlingslager Nuseirat in Zentralgaza.
Wie hat sich Ihr Leben seit dem Beginn des Waffenstillstands verändert?
Asma Mustafa
Vieles hat sich verändert. Ich schlafe erstmals ohne das Geräusch israelischer Militärdrohnen oder Detonationen in der Ferne oder in meiner unmittelbaren Umgebung. Jeder kennt dieses Gefühl, wenn das eigene Herz sehr schnell schlägt; meistens spürt man das für wenige Momente, ich hatte das zwei Jahre lang nahezu permanent. Nun ist das zum Glück vorbei. Ich kann mich zu jeder Zeit vor die Tür wagen, vor einigen Tagen noch ging das nicht. Morgen beispielsweise besuche ich meine Mutter und muss mich nicht fragen, wann ich gehen soll, wann es sicher ist. Ich kann gehen, wann ich will.
Palästinenser in Gaza (wie hier in Chan Yunis) feierten den angekündigten Waffenstillstand spontan auf den Straßen.
Wie hat sich die Versorgungslage verändert?
Mustafa
Endlich werden Güter nach Gaza geliefert, die erschwinglich sind. Es gehen Händler durch das, was von unseren Städten übrig geblieben ist, und bieten ihre Waren an. Ich war kürzlich in der Abu Dalal Mall und bin kaum durch die Menschenmassen gekommen. Manchmal kann man elektronisch bezahlen, dann wieder nicht. Um an Bargeld zu kommen, muss man aber horrende Gebühren bezahlen – wenn ich 500 Dollar (430 Euro) in bar von meinem Konto abheben will, zahle ich 500 Dollar Gebühr an Zwischenhändler. Vieles ist noch sehr teuer. Für unsere Behausung in Nuseirat in Zentralgaza, wo wir nach der zehnten Vertreibung gelandet sind, zahle ich 200 Dollar Miete, das ist ein Zimmer mit drei Wänden. Anstelle der vierten Wand habe ich eine Plastikplane gespannt, sie hat mich 150 Dollar gekostet.
Um an Bargeld zu kommen, muss man aber horrende Gebühren bezahlen.
Asma Mustafa
Lehrerin
Wie sieht es mit Nahrungsmitteln aus?
Mustafa
Ich kann meinen Töchtern nach Monaten wieder Obst geben. Gestern habe ich je ein Kilo Bananen und Äpfel gekauft und dafür 20 Dollar bezahlt. Das sind vergleichsweise günstige Preise. Im vergangenen Mai habe ich für drei Gurken, zwei Tomaten und zwei Zwiebeln noch 70 Dollar bezahlt. Die Bananen und Äpfel von gestern waren die ersten Früchte, die meine Kinder seit acht Monaten gegessen haben. Meine beiden Töchter freuen sich sehr, dass es endlich einen Waffenstillstand gibt. Sie gehen unbeschwerter zum Spielen hinaus und geben mir bereits Aufträge, was ich alles kaufen und kochen soll, jetzt, wo der Krieg vorbei ist. Sie hätten gerne, dass ich ihnen Maklube zubereite (palästinensisches Reisgericht, Anm.), aber dafür braucht man Hühnerfleisch, und das gibt es nicht, weder in der Dose, geschweige denn frisch. Aber wir waren schon in einem Lokal, das knapp nach dem Waffenstillstandsabkommen eröffnet hat. Es gibt dort einfache Gerichte wie eine Art Pizza und Brot mit Zatar (Gewürzmischung, Anm.). Den Mädchen hat es gefallen. Sie sind voller Hoffnung und Freude, und das gibt mir Kraft.
Ich kann nicht aufhören, daran zu denken, wie gebrochen ich bin. Von der Mangelernährung sind meine Knochen geschwächt. Manchmal fällt mir das Gehen schwer, ich bin oft krank. Manchmal sehe ich mein Spiegelbild und denke mir, ich sehe älter aus, als ich sollte. Meine Haut ist dunkler als früher, ich habe die vergangenen zwei Jahre im Freien verbracht; meine Haare sind ergraut. Wir alle, die wir das überlebt haben, sind traumatisiert. Ich habe Angst, dass meine Töchter nicht in der Lage sein werden, in ein normales Leben zurückzukehren. Sie könnten denken, dass das, was wir in den vergangenen zwei Jahren erlebt haben, dass die Ruinen, in denen wir jetzt leben, normal sind. Die Frage, die ich mir als Mutter stelle, ist: Was kann ich tun, damit sie ein wieder ein normales Leben haben können? Dieser Tage haben die Kinder ihre Zeugnisse bekommen. Die Schulen des UN-Palästinenserhilfswerks haben in diesen zwei Jahren eine Art Remote-Unterricht organisiert. Einmal in der Woche bekamen die Kinder online Aufgaben gestellt, in Arabisch, Englisch, Mathematik sowie in den Naturwissenschaften. Es ist schön, dass sich die Kinder freuen, das freut uns Erwachsene auch. Aber es gibt keine Schulen mehr in Gaza, keine Universitäten. Alles ist zerstört.
Ich habe Angst, dass meine Töchter nicht in der Lage sein werden, in ein normales Leben zurückzukehren.
Asma Mustafa
Lehrerin
Vor dem Krieg haben Sie im Norden Gazas im Jabalia-Camp gelebt. Sie wurden mehrfach vertrieben und sind nun in Zentralgaza. Werden Sie in den Norden zurückkehren, wie es Tausende getan haben?
Mustafa
Ich werde noch ein wenig zuwarten, weil ich dort nichts habe, wohin ich zurückkehren könnte. Es ist alles dem Erdboden gleichgemacht. Hier habe ich zumindest diesen Verschlag für meine Töchter und mich. Aber ich werde zurückkehren, denn dort ist mein Land, und dies ist mein Eigentum. Ich möchte alles wieder aufbauen. Sobald Bulldozer kommen, um die Straßen zu räumen, werden auch wir uns auf den Weg machen. Derweil warten wir noch. Dies ist nur die erste von drei Phasen des Abkommens. Wir verfolgen die Nachrichten sehr genau, jedes Kind sieht sich an, was Donald Trump auf den sozialen Medien postet.
Tausende vertriebene Palästinenser machten sich mit dem Waffenstillstand wieder auf dem Weg nach Gaza-Stadt.
Was ist das für ein Gefühl, wenn das eigene Leben und Überleben, der Alltag, was man isst und trinkt, wo man schläft, so unmittelbar von einer Person abhängt, die weit weg ist und die einem fremd ist?
Mustafa
Es ist ungerecht.
Ich werde hier nicht bleiben, sollte der Krieg zurückkehren.
Asma Mustafa
Lehrerin
Laut dem Trump-Plan sollen alle, die möchten, Gaza verlassen können. Spielen Sie mit dem Gedanken, wegzugehen?
Mustafa
Ich liebe Gaza. Als jemand, der hier geboren wurde, als Mutter werde ich hierbleiben und am Wiederaufbau teilnehmen. Das ist meine Heimat. Ich bin meinen Kindern ergeben und als Lehrerin der Bildung. Aber ich werde hier nicht bleiben, sollte der Krieg zurückkehren.
Osama Naim, ein junger Palästinenser, der kürzlich aus Gaza nach Österreich evakuiert wurde, meinte letztens im profil-Gespräch, die Menschen in Gaza hätten keine Zeit, um traurig zu sein. Damals war der Krieg noch in vollem Gange. Wie ist das jetzt nach der ersten Phase des Waffenstillstands?
Mustafa
Als der Waffenstillstand vergangenen Freitag um 12 Uhr in Kraft trat, war das für uns ein merkwürdiger und sehr schmerzhafter Moment. Die Menschen kontaktierten einander, sie gedachten all ihrer Liebsten, die nicht überlebt haben. Der Sohn meiner Schwester wurde getötet, er war 14 Jahre alt, das war vor wenigen Wochen. Sie weint seither ununterbrochen und zählt die Tage von seinem Todestag bis zum Tag des Waffenstillstands, immer und immer wieder. Über diese Dinge haben wir keine Kontrolle. Ich glaube an Schicksal. Jetzt, wo alles vorbei zu sein scheint, beginnt erst unsere Trauer.