Wenn das Leben länger dauert
Als Maria Weber kürzlich ihren 85. Geburtstag feierte, gab es keine Torte. Für sie und ihre beiden besten Freundinnen reichte es gerade einmal für eine Melange im Kaffeehaus. „Gerne hätte ich meine ganze Seniorenwandergruppe beim Umtrunk dabeigehabt“, sagt Maria. Doch die Alleinstehende muss jeden Pensionseuro mehrmals umdrehen. Schon für die Einladung in kleiner Runde hatte die Jubilarin zuvor aufs Mittagessen verzichtet. Darin hat sie Übung. Auch ihre neue Brille hat sie sich im Wortsinn vom Munde abgespart.
Dass am Ende des Geldes noch viel Monat übrig ist, ist für viele Pensionist:innen in Österreich auch nach einem arbeitsreichen Leben längst Realität. Laut einer Erhebung von EU-SILC aus dem Jahr 2023 sind 15 Prozent aller heimischen Haushalte mit Pensionseinkommen armutsgefährdet. Unter den alleinlebenden Frauen über 65 waren es sogar an die 28 Prozent.
Doch auch die, die sich aufgrund ihres Einkommens und Karriereverlaufs ohne Verdienstausfall, Karenz-, Pflege- oder Teilzeitjahre einer guten gesetzlichen Pension erfreuen oder künftig darauf hoffen, wiegen sich wahrscheinlich in trügerischer Sicherheit. Denn unser Pensionssystem gerät durch den demografischen Wandel zunehmend unter Druck. Die Pensionslücke wird auch für Gut- und Besserverdiener künftig noch weiter aufklaffen.
Selbst Geld fürs Alter anzusparen und zu investieren, wird schon allein vor diesem Hintergrund immer wichtiger. Nach wie vor ist die private Altersvorsorge in Österreich jedoch ein Stiefkind. Nach einer Studie von MindTake Research hatten 2023 nur 37 Prozent der befragten 16- bis 60-Jährigen „bereits konkrete Maßnahmen“ getroffen.Und leider sind auch jene, die etwas auf die hohe Kante legen (können/konnten), mitunter alles andere als auf der sicheren Seite, warnt die Schweizer Longevity-Finance-Expertin Nadine Esposito im Interview mit profil Extra. Denn wird die Absicherung für morgen nicht an die steigende Lebenserwartung angepasst, werden auch viele derer, die brav privat vorsorgen, feststellen müssen, dass am Ende des Geldes noch viel Leben übrig ist. Ein Interview über das Langlebigkeitsrisiko und wie man damit umgeht.
ZUR PERSON
Nadine Esposito (42) ist Gründerin und CEO von Wellthspan Advisory. Die Schweizer Expertin für Lonegevity Finance setzt sich nicht nur für Financial Literacy ein, sondern auch dafür, das Bewusstsein für die Bedeutung von Langlebigkeitskompetenz zu stärken – im Finanzsektor und Gesundheitswesen, bei Unternehmen und Privaten.
Wie müssen wir bei der privaten Altersvorsorge umdenken?
Nadine Esposito
Die Grundsätze bleiben natürlich die gleichen. Man darf sich nicht auf die staatliche Pension allein verlassen, sondern muss die Altersvorsorge selbst in die Hand nehmen. Dazu gehört, streng zu budgetieren, die Ausgaben zu senken und das Ersparte so früh wie möglich zu investieren. Stützt man sich dabei jedoch auf Modelle der traditionellen Finanz- und Pensionsplanung, übersteigt die Life Span in vielen Fällen die Wealth Span. Leider haben heute die wenigsten im Blick, dass ihr Vermögen im Alter voraussichtlich weit länger reichen muss als noch bei den (Groß-)Eltern, weil es heute – selbst für Boomer – nicht ungewöhnlich ist, nach der Pensionierung nicht nur weitere 15, sondern 30 Jahre oder sogar noch länger zu leben. Jede Generation wird 7,5 Jahre älter als die vorherige. Diese Entwicklung erfordert eine Neubewertung der finanziellen Planung.
Mit welchem Horizont sollte man planen?
Nadine Esposito
Am besten plant man beim Vermögensaufbau fürs Alter mit einer Lebensspanne 100plus. Insbesondere, wenn man zu den Jüngeren angehört. Jedes zweite Kind, das heute geboren wird, wird über 100, wenn der Trend anhält – womit angesichts des medizinischen Fortschritts zu rechnen ist. Die Next Generation wird zudem eine Generation sein, die mit noch größeren Pensionslücken zu rechnen hat. Nicht nur aufgrund des Pensionssystems. Sondern auch, weil sie mit großer Wahrscheinlichkeit einmal aus dem Arbeitsprozess ausscheidet, um die Eltern zu pflegen. Oder weil sie in ihrer Karriere gezwungen ist, mehrfach umzulernen, was jeweils mit Lohneinbußen verbunden ist.
Für fast alle wird das Pensionsleben aber wahrscheinlich nicht nur länger, sondern auch teurer als gedacht …
Nadine Esposito
Ja, denn ab dem 65. Lebensjahr nehmen (chronische) Krankheiten zu. Und längst nicht alle Medikamente, Arztbesuche, Hilfsmittel oder Therapien werden von den Krankenkassen getragen. Für die meisten kommen auch irgendwann hohe Ausgaben für die Pflege hinzu – ob zu Hause mit 24-Stunden-Betreuung oder im Heim. Nicht zu vergessen: Wer länger lebt, wird in der Regel auch länger für Gesundheits- und Pflegekosten aufkommen müssen. Auch das muss neben der verlängerten Life Span in die Finanzplanung mit einfließen.
Diese Themen habe die meisten (noch) nicht im Blick. Was tun?
Nadine Esposito
Parallel zur Finanzkompetenz müssen wir heute auch Langlebigkeitskompetenz aufbauen. Longevity Literacy umfasst unter anderem das Wissen über unterschiedliche Pflegeformen und ihre Kosten, die Notwendigkeit, mit unterschiedlichen Anlagehorizonten zu planen, und das Verständnis, wie stark die Gesundheit den Finanzbedarf, das Risikoprofil und damit die Anlagestrategie beeinflusst.
Wie sieht also eine geglückte 100plus-Finanzstrategie aus?
Nadine Esposito
Die Planung fürs Alter sollte Gesundheits- und Vermögensmanagement verknüpfen, um den Investitionshorizont und das -portfolio an das tatsächliche Gesundheitsniveau, das biologische statt chronologische Alter und die erwartete Lebensspanne einer Person anzupassen. Das würde eine wesentlich realistischere und nachhaltigere Vermögensstrategie ermöglichen.
Die Generation 65+ ist ja sehr heterogen. Wie bezieht man individuelle Faktoren in die Planung ein?
Nadine Esposito
Indem man sich folgende Fragen beantwortet: Was bedeutet es für mich zu altern und sehr alt zu werden – physisch, psychisch, sozial, emotional, spirituell (Life Purpose), finanziell? Wie stelle ich mir mein Leben in der Pension vor? Welche Auswirkungen hat das auf meinen Lebensstil und die Lebenshaltungskosten? Wie steht es um meine Gesundheit und Gesundheitsrisiken und welche Ausgaben könnten da auf mich zukommen? Will ich etwas vererben oder darf das Ferienhaus für die Alterssicherung verkauft werden? Zudem gehen wir standardmäßig noch immer davon aus, dass Lebensereignisse wie Scheidung oder Heirat, Immobilienkauf oder Unternehmensgründung im Alter nicht mehr relevant sind. Doch das ändert sich und muss ebenfalls mitgedacht werden.
Ist die Finanzbranche angebotsseitig schon auf Langlebigkeit und personalisierte(re) Altersvorsorge eingestellt?
Nadine Esposito
Ich habe jetzt noch nicht wirklich innovative Lösungen gesehen. Aber ich denke, es ist wirklich nur eine Frage der Zeit. KI und Big Data werden sicher große Möglichkeiten zur flexiblen Personalisierung von Produkten und Leistungen eröffnen. Was es definitiv zunehmend gibt, sind Versicherungen, die Langlebigkeit und Longterm-Care absichern, und Lösungen, die sich auf die Reinvestition der Pensionsgelder fokussieren, damit die Pension länger reicht.
„Parallel zur Financial Literacy müssen wir heute auch Langlebigkeitskompetenz aufbauen und ein Verständnis dafür, wie stark die Gesundheit den Finanzbedarf, das Risikoprofil und damit die Anlagestrategie beeinflusst.“
Longevity Finance ist ja ein neues und recht weites Feld. Wie ist es abgesteckt?
Nadine Esposito
Im engeren Sinne umfasst Longevity Finance Finanzprodukte, -strategien und -services, um ein Leben bis 100plus finanziell zu planen und zu strukturieren. Auf institutioneller Seite gehören die Anpassung von Pensionen, Versicherungen und Gesundheitsfinanzierungen dazu, mit dem Ziel, längere Lebensspannen, steigende Gesundheitskosten sowie längere Erwerbs- und Rentenphasen zu berücksichtigen. Auch neue Finanzprodukte zur Deckung der höheren Kosten nach der Pensionierung fallen dort hinein. Je nach Breite der Definition sind auch Longevity-Investing – also Investments in die boomende Longevity-Branche – oder die Nachfolgeregelungen für Unternehmer:innen, deren Altersvorsorge oft der Verkauf des Betriebs ist, inkludiert.
Bei der Planung fürs Alter gibt es immer auch Black Boxes. Die Gesundheit zum Beispiel …
Nadine Esposito
Dort ganz hineinblicken kann niemand. Doch epigenetische Tests und Fitnessdaten ermöglichen es, das biologische Alter immer präziser zu bestimmen. Bis das in der Breite ankommt, sollte das Ziel für jede:n sein, die Health Span, also die Jahre, die man in guter Gesundheit verbringt, auszudehnen und die Sick Span nach hinten zu schieben. Hier kommt Prävention eine große Bedeutung zu. Medicine 2.0 ist für Longevity zentral.
Die jedoch kann sich nicht jede:r leisten …
Nadine Esposito
Longevity-Ärzte, -Kliniken und -Nahrungsergänzungen sind (noch) recht teuer. Viel wesentlicher zur Senkung von Gesundheitskosten im Alter ist aber sowieso ein präventiver Lebensstil. Und viele der Maßnahmen kosten wenig bis nichts. Um sich mehr zu bewegen, besser zu essen, Stress abzubauen, ausreichend zu schlafen etc., braucht es weniger Geld, sondern vor allem Eigenverantwortung und eine intrinsische Motivation. Leider sind wir noch weit davon entfernt, dass die Krankenkassen Prävention breit unterstützen. Doch manche Vorsorgeuntersuchungen werden schon übernommen – auch weil man damit rechnet, dass das auf Dauer das Gesundheitssystem entlastet.
Gesundheitsvorsorge klingt für viele fast so mühsam wie Altersvorsorge. Ein Tipp, wie’s besser klappt?
Nadine Esposito
Wir sollten anfangen, Gesundheit als essenziellen Vermögenswert zu sehen, der gepflegt und erhalten werden muss wie traditionelle, finanzielle Assets. Jede Investition in die Gesundheit, ob Gym oder gesunde Lebensmittel, bringt im Alter einen Return of Investment. Einerseits ermöglicht Gesundheit eine längere Erwerbsphase und gibt damit Zeit für den Vermögensaufbau. Anderseits reduziert Prävention Gesundheitskosten im Alter. Am besten optimiert man Finanzen und Gesundheit parallel, zumal finanzielle Sicherheit und Gesundheit eng miteinander verbunden sind. Denn Geldsorgen können Angststörungen und Depressionen hervorrufen, schlechte Gesundheit kann wiederum die Finanzen in Schieflage bringen. Wer sich dessen bewusst ist, erkennt, wie stark die Gesundheit den Finanzbedarf und das Risikoprofil beeinflusst. Genau hier könnte auch eine Zusammenarbeit zwischen Finanz- und Gesundheitswesen transformativ wirken. Longevity-Finance und Prävention – das wäre eine ganzheitliche Win-win-Strategie, die sowohl finanzielle als auch gesundheitliche Sicherheit bietet und uns besser auf ein längeres Leben vorbereitet.
Apropos Gewinnerstrategie: Was ist von Investments in die boomende Longevity-Branche zu halten?
Nadine Esposito
Longevity-Bonds und -Fonds ermöglichen bereits eine Investition in Longevity-Unternehmen. Großteils besteht die Branche jedoch aus nicht-börsennotierten Start-ups im Bereich Age-Tech, Med-Tech, Drug Development mit AI …
Investitionen sind hier risikoreich – Stichwort: Private Equity – und erfordern einen langen Anlagehorizont. Supplements und Kliniken halte ich auch eher für einen Hype, der sich abkühlen wird. Doch insgesamt ist Longevity ein Cross-Industrie-Thema, das bleiben wird, weil die Gesellschaft nun mal altert. So muss zum Beispiel auch die Infrastruktur der Städte an die Mobilitätsbedürfnisse der wachsenden Gruppe der Über-60-Jährigen angepasst werden. Ein spannender, anderer Ansatz wäre, dass Menschen direkt in die eigene Gesundheit investieren können – etwa durch eine Kooperation mit der Versicherungsbranche.
Länger zu leben – und das in finanzieller Sicherheit und bei guter Gesundheit –, ist eine der größten Herausforderungen, aber auch Chancen unserer Zeit. Was dominiert das Stimmungsbild?
Nadine Esposito
Was ich wahrnehme, ist mehr Angst. Es dominiert eine „Ich will gar nicht wissen, wie lange mein Vermögen reicht oder wie ich meinen Lebensstandard heute runterschrauben muss, damit es morgen passt“-Einstellung. Doch ich kann wirklich nur jedem ans Herz legen, die Finanzplanung bis 100plus couragiert selbst anzugehen. Der größte Fehler, den man machen kann, ist, sich nicht damit zu befassen.
Text & Interview: Daniela Schuster