Zwei statt vier Prozent Inflation: Stockers Schicksals-Zahl
Seit gestern ist die Dreier-Koalition auf „Klausur“. Wobei dieses Wort nur noch eine Hülse ist. Die Regierung sitzt einfach länger als sonst im Bundeskanzleramt zusammen und bittet den einen oder anderen Experten dazu. Fotografen müssen sich mit „Doorsteps“ zu Beginn und „Pressebriefings“ im Steinsaal begnügen – ganz ohne Österreich-Kulisse. Vorbei die Bilderbuch-Klausuren zwischen Therme Loipersdorf, Schladminger Bergpanorama oder niederösterreichischen Schlossparks. Gürtel enger schnellen, ohne Schönwetterbilder, bei „Mini-Schnitzel und Mini-Forellen“ (© Matthias Westhof, ORF), ist die einzige Inszenierung, die der Dreier-Koalition bleibt.
Weil sie nicht aus dem Krisenmodus kommt. Flüchtlingswelle 2015 und Pandemie wirken politisch bis heute nach. Und wer glaubte, dass die dritte große Krise dieses Jahrzehnts, die Teuerung, endlich ausschleicht, wurde spätestens am Dienstag eines Besseren belehrt. 4,1 Prozent betrug die Inflation laut Schnellschätzung der Statistik Austria im August, nach 3,7 Prozent im Juli. Zum Vergleich: In Frankreich stiegen die Preise im August nur noch um 0,8 Prozent.
Teuerungszentrum Wien
Dass die Preise derart in die falsche Richtung traben, damit hätten selbst die erfahrendsten Ökonomen nicht gerechnet, ergab ein Rundruf. Zur Erinnerung: Noch Mitte letzten Jahres hatte das Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) nach 8,6 Prozent (2022) und 7,8 Prozent (2023) eine Entspannung auf 3,4 im Jahr 2024 und 2,5 Prozent heuer prognostiziert. Heute geht der Autor dieser Prognose, Josef Baumgartner von 3,5 heuer und 2,5 Prozent Inflation erst im nächsten Jahr aus.
Praktisch zeitgleich gab die Wiener Stadtregierung am Montag bekannt, die Preise fürs Parken und fürs Öffi-Jahresticket (467 statt 365 Euro) um knapp ein Drittel anzuheben. Dieselbe SPÖ, deren Vizekanzler sich als Bollwerk gegen hohe Mieten und Lebensmittelpreise präsentiert, schwingt in Wien den Teuerungs-Hammer.
Die Anpassung des Wiener Jahres-Tickets, das seit 2012 unverändert 365 Euro kostete, mag überfällig sein. Dass die Stadt den Bürgern aber erst nach der Wien-Wahl im April reinen Wein einschenkt, können FPÖ und die grünen Erfinder des 365-Euro-Tickets nun weidlich ausschlachten. Auch der Bund war mit seinen Gebühren zuletzt eindeutig ein Kostentreiber und nicht -Dämpfer, wie Baumgartner vom Wifo es ausdrückt. Denn neben dem Inflationsziel gibt es auch das Sparziel und beim Budgetsanieren helfen höhere Einnahmen. Budgetziel versus Inflationsbekämpfung: Wie will die Regierung diese Quadratur des Kreises nur hinbekommen?
Stockers Schicksals-Zahl
ÖVP-Bundeskanzler Christian Stocker hat sich für seine stoische Art fast wagemutig festgelegt: Er will die Inflation bis 2026 auf zwei Prozent drücken. Damit wird der Zweier zu seiner Schicksalszahl und der aktuelle Inflations-Vierer zum Fanal. Seine Regierung müsste jetzt (im Dialog mit den Sozialpartnern) erreichen, dass die Lohnabschlüsse moderat bleiben, damit keine neuerliche Lohn-Preis-Spirale in Gang kommt. Sie muss jetzt – wie Stocker im ORF-Sommergespräch angekündigt hatte – die Pensionen unter der Inflation erhöhen, auch wenn das die Kernwählerschichten von SPÖ und ÖVP trifft. Die Gewerkschaften in der Privatwirtschaft werden sich kaum auf moderate Lohnerhöhungen einlassen, wenn Pensionisten aber auch Beamte weiterhin die volle Inflationsabgeltung erhalten.
Und die Regierung muss sich vor allem mit den Landesenergieversorgern anlegen, damit die Netzgebühren deutlich sinken. Denn die hohen Strompreise sind nach Wegfall der diversen Energiepreis-Stützen aktuell der stärkste Inflationstreiber. Stockers Mantra-artiger Appell an die EU, den „Österreich-Aufschlag“ auf Lebensmittel in kleineren Ländern wie Österreich zu verbieten, könnte hingegen – wenn überhaupt - zu spät wirken.
Flüchtlingskrise, Pandemie (Impfpflicht) und Teuerung haben die Umfragewerte der FPÖ tektonisch in Richtung 35 Prozent verschoben, während ÖVP und SPÖ bei rund 20 Prozent schwächeln. Durch die Verlängerung der Inflationskrise wird es nun noch schwerer für die Dreierkoalition. Sie muss dafür ganz neue Register ziehen. Oder wie Stocker selbst es im Sommergespräch ausgedrückt hat: „Althergebrachte Modelle und Rezepte können nicht mehr in die Zukunft übertragen werden. Es braucht mehr Kreativität.“ Und den Mut, sich mit fast allen – von Gewerkschaften, über Pensionisten bis Ländern – anzulegen.
Die Kosten für Regierungsklausuren sind über die Jahre massiv gesunken. Zumindest hier ist die Trendwende gelungen.
In eigener Sache
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