Islamismusforscher Moussa Al-Hassan Diaw
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Islamistische Radikalisierung: „Mädchen werden in der Millennium City angesprochen“

Moussa Al-Hassan Diaw ist Islamismusforscher und Mitgründer der Deradikalisierungs-NGO Derad. profil sprach mit ihm über sein neues Buch „Die Radikalisierten“, die aktuelle Gefahr von Islamisten und die Urteile der Ex-IS-Anhängerinnen Maria G. und Evelyn T.

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Herr Diaw, Sie schreiben in Ihrem neuen Buch „Die Radikalisierten“ darüber, dass immer mehr Menschen in den Bann islamistischer Ideologien gezogen werden. Inwiefern hat sich das in den vergangenen Jahren zugespitzt?

Moussa Al-Hassan Diaw

Quantitativ merken wir, dass viele junge Menschen, hauptsächlich aus dem Raum Wien, Niederösterreich und Oberösterreich, in diese Szene hineingeraten. Das Innenministerium geht von einer dreistelligen Zahl im mittleren Bereich aus. Radikalisierte, die zumindest Teile dieser Ideologie verinnerlicht haben, gibt es aber mehr, wie wir beobachten. Früher waren sie älter, jetzt sind sie oft schon zwölf oder 13 Jahre alt. Sie sind fasziniert vom Ruf, den die Islamisten haben. Zuerst kommt die äußere Faszination, danach die innere Überzeugung. Die meisten Personen, die zu uns kommen, sind schon länger in der Szene drinnen und reproduzieren das islamistische Gedankengut. Es ist wie bei einer Sekte. Mit ihnen vernünftig zu argumentieren ist schwierig, weil ihnen grundsätzliches Wissen fehlt.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Diaw

Wir hatten einen jungen Mann, einen Autochthonen, bei uns. Er hat sich von den islamistischen Ideologien mittlerweile gelöst, ist aber sehr radikal in die Szene eingestiegen, weil er von dem Männlichkeitsbild der Islamisten so fasziniert war. In den ersten Gesprächen mit uns hat er immer versucht, den „harten Mann“ zu spielen und beispielsweise gesagt, die Erde sei eine Scheibe, weil es ja keine islamische Erklärung dafür gäbe, dass sie rund sei.

In dem Buch steht auch, dass sich zunehmend junge Frauen radikalisieren. Wie läuft so ein Prozess bei ihnen ab?

Diaw

Es handelt sich um meist vulnerable junge Mädchen im Alter von zwölf bis 14 Jahren, die an Orten wie der Millennium City (Anm.: Einkaufszentrum in Wien-Brigittenau) verkehren und von jungen Männern angesprochen werden. Burschen, denen ich jetzt vorwerfe, diese auch zu groomen*. Diese Mädchen haben oft psychische oder familiäre Probleme. Sie finden Islamisten faszinierend, weil diese sich als starke Männer inszenieren. Die Teenagerinnen sind irgendwann in dieser Szene gefangen, werden islamisch verheiratet, geschieden und von Mann zu Mann weitergereicht. Es werden Abhängigkeiten geschaffen. Aber auch Frauen, die bereits in der Szene gefangen sind, radikalisieren andere Frauen.

Was machen diese jungen Mädchen dann beim IS?

Diaw

Einerseits verbreiten sie über Social Media-Plattformen wie Instagram, TikTok oder Chatgruppen IS-Propaganda. Andererseits gibt es aber auch Offline-Treffen. Sie werden mit IS-Anhängern aus anderen Bundesländern islamisch verheiratet. In ihrem Ideal sind sie dann die Ehefrauen der Islamisten. Dadurch, dass viele von ihnen aber sehr jung sind, leben sie noch bei ihren Eltern, sodass diese Idealvorstellung häufig nicht aufgeht. Von einigen Mädchen gibt es auch die Bereitschaft, Gewalt auszuüben. Oft bleibt es bei der Fantasie. Das Problem ist nur: Wenn sie diese einmal aussprechen, muss man davon ausgehen, dass sie irgendwann einen Kick bekommen und diesen Reizen nachgehen.

Die meisten Personen, die zu uns kommen, sind schon länger in der Szene drinnen und reproduzieren das islamistische Gedankengut. Es ist wie bei einer Sekte. Mit ihnen vernünftig zu argumentieren ist schwer, weil grundsätzliches Wissen fehlt.

Moussa Al-Hassan Diaw

Islamismusforscher

Vergangene Woche wurde die IS-Rückkehrerin Maria G. zu zwei Jahren bedingter Haft verurteilt. Im April bekam die andere Ex-IS-Anhängerin, Evelyn T. die gleiche Strafe. Was sagen Sie zu dem Urteil?

Diaw

Über die Salzburgerin (Anm.: Maria G.) kann ich nichts sagen, ich kenne sie nicht. Was ich aber sagen kann ist, dass die Leute, die aus den kurdischen Internierungslagern Al Hol und Roj kommen, in der Regel hochgradig radikalisiert sind. Sie wurden jahrelang täglich mit islamistischem Gedankengut konfrontiert, das in ihren Köpfen sitzt. Wir haben eine Rückkehrerin und ihre Kinder aus einem Nachbarland betreut. Ihre Sozialarbeiter:innen haben das Deradikalisierungsprogramm nach einem Jahr beendet – aus unserer Sicht zu früh. Ihr Sohn ist später nach Wien gereist und wurde in einem islamischen Geschäft gesehen, das dafür bekannt ist, islamistische Bücher zu verkaufen. Ich glaube, wir gehen zu sorglos mit dem Thema Deradikalisierung um.

Die aktuelle Regierung würde Ihnen da wohl widersprechen. In ihrem Programm, das kurze Zeit nach dem Attentat in Villach beschlossen wurde, verspricht sie, Deradikalisierungsprogramme weiter auszubauen. Die Regierung will auch Einreiseverbote für „Influencer Preacher“ einführen.

Diaw

Ich halte die Vorhaben für unrealistisch, aber ich verstehe, dass die Politik reagieren musste, weil die Bevölkerung es verlangt hat. Man merkt, dass das Programm von Menschen, die nicht aus der Praxis kommen, geschrieben wurde. Man kann Listen über gefährliche „Influencer Preacher“ machen, aber die Sicherheitsbehörden kennen sie ohnehin schon. Ich denke, dass das nicht viel bewirken wird, denn Propaganda lässt sich nicht wirklich einschränken. Du sperrst einen Account, dann taucht der nächste unter neuem Namen auf und oft weißt du nicht einmal, wer ihn betreibt. Eine Alternative wäre eine Firewall, wie China sie hat, aber wir haben ja zum Glück keinen totalitären Staat.

Was würden Sie sich von der Regierung wünschen?

Diaw

Unsere Teammitglieder verfügen über mehr als zehn Jahre Erfahrung im Bereich der Extremismusprävention und Deradikalisierung. In dieser Zeit wurde uns mehrfach Unterstützung zugesagt, die jedoch aufgrund von Ressortwechseln und strukturellen Veränderungen im Justizbereich nie umgesetzt werden konnte. Bis heute verfügen wir über keine gesicherte Möglichkeit, ein eigenes Back-Office einzurichten, das die Koordination und Verwaltung unserer Arbeit übernehmen könnte. Diese Aufgaben erledigen wir zusätzlich zu unserer praktischen Tätigkeit in der direkten Arbeit mit radikalisierten Personen. Der damit verbundene organisatorische und verwaltungstechnische Aufwand ist erheblich. Im Vergleich zu anderen, seit längerem geförderten Organisationen zeigt sich deutlich, dass uns die notwendigen Ressourcen fehlen, um eine nachhaltige und professionelle Struktur aufzubauen – etwa in Form eines Büros oder mehrerer Standorte in den Bundesländern.

Wie treffen Sie dann – ohne Büro – überhaupt Ihre Klient:innen?

Diaw

Derzeit sind wir darauf angewiesen, auf Einrichtungen in den Bundesländern auszuweichen, die uns ihre Räumlichkeiten unentgeltlich und nur bei zeitlicher Verfügbarkeit zur Verfügung stellen. In manchen Fällen müssen Gespräche mit Weisungsklient:innen in Cafés oder – in den Sommermonaten – im Freien stattfinden, insbesondere außerhalb Wiens. Diese Situation ist für die sensible Arbeit im Bereich der Deradikalisierung alles andere als ideal.

Social Media hat bereits bei Maria G. in der Radikalisierung eine große Rolle gespielt. Inwiefern unterscheidet sich die Onlineradikalisierung heute von der damals?

Diaw

Früher waren es insbesondere radikale YouTube-Videos, die von Facebook-Accounts geteilt wurden. Oder man war in Chaträumen unterwegs. Es war vergleichsweise viel transparenter, wer hinter den Accounts steckt. Auch die Geräte, auf denen man Zugriff auf islamistische Inhalte hatte, waren anders. Früher war es vor allem der PC, heute ist es fast ausschließlich das Handy, auf dem die Inhalte viel einfacher zugänglich sind. Viele Jugendliche wissen gar nicht mehr, wie man einen PC verwendet.

Und wie sehen „Offlineradikalisierungen“ heutzutage aus?

Diaw

Es gibt verschiedene Orte, an denen junge Leute auf Islamisten treffen. Das sind beispielsweise Parks, aber auch Gebetsräume – zum Beispiel im Landeskrankenhaus Sankt Pölten – weil man wusste, dass dort sonst nie jemand ist. Immer wieder werden auch muslimische Gebetshäuser zum inoffiziellen Treffpunkt, von denen bekannt ist, dass dort Imame mit radikaleren Ansichten predigen. Wo sich Islamisten treffen, hängt auch oft davon ab, wo viele Menschen wohnen. Im 12., 8. und 20. Bezirk kommt es immer wieder zu Treffen – aktuell auch in einer angemieteten, von außen unauffälligen Wohnung in einem Bezirk jenseits der Donau.

Wie schätzen Sie die aktuelle Gefahrensituation in Bezug auf Islamismus in Österreich derzeit ein?

Diaw

Es gibt – neben dem IS – unterschiedliche Strömungen und viele Extremisten, beispielsweise jene, die sich seit dem 7. Oktober 2023 herauskristallisieren. Radikale Haltungen und Einstellungen kommen immer mehr in den Mainstream.

Inwiefern?

Diaw

Wir werden in unseren Workshops immer wieder gefragt, ob es unislamisch sei, wählen zu gehen. Radikalisierte müssen nicht zwingend IS-Anhänger sein, wenn sie denken, dass es in Ordnung ist, Gewalt auszuüben. Jeder, der nicht deradikalisiert ist, kann potenziell Träger einer gewaltverherrlichenden Haltung sein.

Ist Deradikalisierung dann überhaupt möglich?

Diaw

Ja, sowieso, auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Die einen haben nichts mehr mit der Szene zu tun, weil sie persönlich Schaden erlitten haben – da zeigt sich deutlich, dass sich ihr Lebensstil verändert hat. Die anderen merken, dass Islamismus der falsche Zugang zum Islam ist. Sie lernen dann zum Beispiel: Du kannst religiös sein und musst dafür demokratische Werte nicht ablegen. Oder du musst auch gar nicht zwingend religiös sein. Es gibt immer wieder Menschen, die sich graduell ändern, aber nie ganz von radikalen Einstellungen lösen. Dennoch ist der Rückfall bei dem Delikt geringer als bei anderen Delikten.

Die Radikalisierten Buchcover von Moussa Al-Diaw Hassan
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Moussa Al-Hassan Diaw: Die Radikalisierten. Wie islamistischer Extremismus junge Menschen vereinnahmt und unsere Gesellschaft herausfordert.

Brandstätter. 175 S. 

EUR 25,–

*Als Grooming wird die gezielte Kontaktaufnahme Erwachsener mit Minderjährigen in Missbrauchsabsicht bezeichnet, indem stufenweise ihr Vertrauen erschlichen wird.

Natalia Anders

Natalia Anders

ist seit Juni 2023 Teil des Online-Ressorts und für Social Media zuständig.