Der 7. Oktober und der Krieg
Letzte Woche bekam ich einen Anruf aus Jerusalem.
Am anderen Ende der Leitung war ein junger Mann, der Unvorstellbares durchlebt. Seit zwei Jahren hält die radikalislamistische Terrormiliz Hamas seinen 24 Jahre alten Bruder in Gefangenschaft. Niemand weiß, ob Evyatar David noch lebt. Vor zwei Monaten ließ die Hamas Videos verbreiten, die ihn bis auf die Knochen abgemagert in einem Tunnel zeigen. Er hält eine Schaufel in der Hand, sagt, dass er dabei sei, sein eigenes Grab auszuheben.
Davor war Evyatar David mit Tal Shoham gemeinsam Gefangen gehalten worden, jenem Israeli mit österreichischer Staatsbürgerschaft, der im Februar im Zuge des Geiseldeals freikam. Profil hat über das Schicksal seiner Familie berichtet und Tal Shoham nach seiner Freilassung auch zum Interview getroffen.
Zurück zu Evyatar, der noch immer in Gefangenschaft verbliebenen Geisel. Vor zwei Jahren, erzählt sein Bruder letzte Woche im Interview, stand Evyatar mitten im Leben. Mit seinen Eltern und den Geschwistern war er eben von einem Urlaub in Italien zurückgekehrt. Er wollte zu einer längeren Thailand-Reise aufbrechen und davor mit Freunden in Israel ein Musikfestival besuchen: Das Nova-Festival. Doch die ausgelassene Party endete in einem Albtraum.
Am 7. Oktober 2023 richtete die Hamas ein beispielloses Massaker in Israel an, tötet mehr als 1.200 Menschen und verschleppt 250 weitere in den Gazastreifen. Das Massaker der Hamas hat die israelische Gesellschaft schwer traumatisiert, das Sicherheitsgefühl Israels nachhaltig zerrüttet.
Gleichzeitig hat der 7. Oktober einen Krieg losgetreten, der jedes Maß verloren hat. Zehntausende Palästinenser wurden getötet, darunter viele Frauen und Kinder. Der Gazastreifen ist ein verwüstetes Trümmerfeld. Der Mitarbeiter einer Hilfsorganisation sprach im Interview mit profil von einem gewaltigen „Friedhof für Kinder.“ Menschen hungern, Familien werden immer wieder aufs Neue vertrieben.
Jetzt soll ausgerechnet ein Mann Frieden bringen, der noch vor wenigen Monaten ernsthaft über die Idee nachdachte, Gaza in die „Riviera des Nahen Ostens“ zu verwandeln (was de facto ethnischen Säuberungen gleichgekommen wäre). Die Rede ist von US-Präsident Donald Trump, der Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu bereits vergangenen Winter zu einer Waffenruhe gezwungen hat, die allerdings folgenlos blieb. Netanjahu führte den Krieg noch brutaler weiter und riegelte den Gazastreifen für Hilfsgüter ab.
Nun, zwei Jahre nach dem 7. Oktober, liegt ein neuer Plan auf dem Tisch. Die Hürden sind groß. Die Hamas müsste ihrer eigenen Kapitulation und Entwaffnung zustimmen und Netanjahu sucht – getrieben von den rechtsradikalen Koalitionspartnern – immer wieder nach Hintertüren, um diesen Krieg weiterzuführen.
Hoffnung und Ohnmacht liegen in der Region nahe beieinander. Für die Familien der Geiseln ebenso wie für die Bevölkerung von Gaza, die sich seit zwei Jahren nirgendwo sicher fühlen kann.
Und auch uns, die westlichen Gesellschaften, hat der 7. Oktober gezeichnet. Heute sind die Fronten so verhärtet wie noch nie. In manchen, linken Echokammern wird die Hamas immer wieder und fälschlicherweise als Widerstandsbewegung glorifiziert. Von pro-israelischen Stimmen wiederum wird jede Kritik an Israels rechter Regierung automatisch als Antisemitismus ausgelegt. Pro-palästinensische Stimmen wiederum wollen nicht hören, dass antisemitische Narrative in der Tat zunehmen. So warnte der deutsche Verfassungsschutz im Vorfeld des Jahrestages vor Anschlägen auf israelische Einrichtungen.
Die Räume, in denen sowohl den Toten und Geiseln des 7. Oktober gedacht wird als auch den Opfern dieses brutalen Krieges, werden kleiner oder verschwinden ganz. Umso wichtiger, dass wir dieser Tage an beide Seiten erinnern und uns klarmachen, dass man sich für keine davon entscheiden muss.