Die Band Tocotronic
Interview

Dirk von Lowtzow von Tocotronic: „Eine vorkriegsartige Zeit”

Der Tocotronic-Sänger und Autor Dirk von Lowtzow verrät, warum seine Songs so gut die Pandemie erklären, welche dunkle Vorahnungen ihn plagen – und warum junge Menschen seine Band vor allem durch die Sticker ihrer Eltern kennen.

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„Wir sind hier ja nicht bei Lady Gaga“, sagt Dirk von Lowtzow, 50, und lacht ins Telefon. Natürlich, so der Frontmann der deutschen Band Tocotronic, rufe er bei Interviews noch selber an – die Plattenfirma brauche er dafür nicht. Die Anfang der 1990er-Jahre in Hamburg gegründete, seit Jahren in Berlin ansässige Band, gilt auch nach knapp drei Jahrzehnten immer noch als Indie-Liebling, der gute Chartplatzierungen einfahren kann. Dieser Tage veröffentlichen Jan Müller (Bass), Arne Zank (Schlagzeug), Rick McPhail (Gitarre) und von Lowtzow ihr 13. Studioalbum. Unmissverständlicher Titel: “Nie wieder Krieg”.

profil: Herr von Lowtzow, die Hälfte der neuen Songs haben Sie live im Studio eingespielt. War das der Versuch, in Zeiten der Pandemie eine Konzert-Situation zu imitieren? 
Dirk von Lowtzow: Für uns war das eine rein ästhetische Entscheidung. Das sind Songs, die sehr unmittelbar sind, im typischen Band-Arrangement mit Schlagzeug, Bass, zwei Gitarren. Live entsteht schlicht eine ganz andere Dynamik.
 
profil: Während der Pandemie wurden Tocotronic-Songs und -Zitate zu Memes und Erklärstücken für ungewisse Zeiten. Wie kam es dazu?
Von Lowtzow: Seit unseren Anfängen geht es um den Wunsch, einer Gemeinschaft anzugehören und Songs zu schreiben, die eine Frustration über die Isolation ausdrücken. Wenn man will, kann man das tocotronische Gesamtwerk unter dem Krisen-Paradigma beleuchten. Aber es gibt auch Songs, die das Gegenteil wollen und besonders um Abgrenzung bemüht sind. Etwa das Lied „Alles was ich will, ist nichts mit euch zu tun haben“ von 1997. In diesem Widerstreit passiert bei uns viel.
profil: Zu Beginn der Pandemie haben Sie den Durchhalte-Song „Hoffnung“ veröffentlicht. Wie hat sich die Krisenzeit auf das neue Album ausgewirkt? 
Von Lowtzow: Die neuen Songs transportieren die Stimmung einer dunklen Vorahnung. Ich finde, das Album spiegelt eine vorkriegsartige Zeit wider. Daher auch sein Titel. Fairerweise muss man sagen, dass alle Songs schon vor der Pandemie entstanden.
 
profil: Sind die Zeiten wirklich so düster?
Von Lowtzow: Das Stück „Nie wieder Krieg“ hatte ich bereits im Frühjahr 2018 geschrieben. Ich hatte schon damals das Gefühl, dass wir uns als Gesellschaft in eine Art Feindschaft aller gegen alle hineinbewegen. Die Pandemie hatte ich da noch nicht vor Augen, aber die Rolle der sozialen Medien in unserer Gesellschaft, diese Kakophonie einander bekriegender Stimmen. Rechtspopulismus und Rassismus wurden dadurch noch mal verstärkt. 
Die Band Tocotronic
profil: Arbeiten Sie mit Tocotronic gegen diese Strömungen?
Von Lowtzow: Als Künstler muss man Gegenangebote machen, Alternativen oder Utopien anbieten. Bei aller Desillusion – es ist ein durchaus bitteres und düsteres Album geworden – stecken auch Komik und befreiendes Lachen in den neuen Songs.
 
profil: Im Song „Ich gehe unter“ findet genau dieses Wechselbad der Gefühl statt. Hier heißt es: „Uns gibt es immer noch. Ein Hilfeschrei.“
Von Lowtzow: Das Zelebrieren des heroischen Untergangs kann reizvoll sein, hat aber auch eine ungeheure Lächerlichkeit. Ohne die Komik ist das Tragische nicht tragisch – und ohne das Tragische ist das Komische nicht komisch.
 
profil: Auf „Ich gehe unter“ folgt der Song „Ich tauche auf“, den Sie gemeinsam mit der österreichischen Musikerin Anja Plasch alias Soap&Skin eingesungen haben. Ein Novum in der Bandgeschichte.
Von Lowtzow: Dieser Song ist zwar von uns, aber wie für Soap&Skin geschrieben. Das liegt an diesem Unterwassermotiv, dieses leicht Morbide, das erinnert natürlich sehr an die Anjas Bilderwelten. Für uns war das eine große Ehre, dass sie sich darauf mit all ihrer Kraft eingelassen hat.
 
profil: Waren die Koketterie mit der Selbstauflösung und der Wunsch des Verschwindens nicht immer Teil von Tocotronic? 
Von Lowtzow: Das sind künstlerische Gesten, die es schon sehr lange in unserem Schaffen gibt. Diese Idee, dass man nichts mehr veröffentlicht, sich aus dem Betrieb verabschiedet. Aber es wird erst spannend, wenn es in den Stücken einen Widerstreit gibt, eine Dynamik der Selbstkritik. 
profil: War es schwer, nach Ihrem autobiografischen Coming-of-Age-Album “Die Unendlichkeit” als Band wieder zu neuen Ideen zu kommen?
Von Lowtzow: Je mehr Alben man macht, desto schwieriger wird es. Man möchte sich nicht wiederholen, man will es für sich selbst spannend halten, zudem steigen die Ansprüche. Wir haben das Glück, dass immer wieder Themen zu uns kommen, die wir dann zu kleinen musikalischen Lebensdramen bauen können.
 
profil: Haben Sie das Gefühl, dass sich Ihre Texte – Stichwort gendergerechte Sprache – in den letzten Jahren verändert haben?
Von Lowtzow: Überhaupt nicht. Das klingt jetzt vielleicht selbstgerecht, aber eine gendersensible Sprache ist seit den 1990er-Jahren Teil unserer Arbeit. Als Judith Butlers „Unbehagen der Geschlechter“ ins Deutsche übersetzt worden war, begann ich, mich mit feministischer und queerer Theorie, mit Gender-Studies auseinanderzusetzen. Das korrelierte mit musikalischen Strömungen wie jener der Riot Grrrls. Unsere Texte werden seitdem genderneutral geschrieben, und wir besingen Frauen grundsätzlich nicht als Objekte. Ein „Sie ist so schön, wenn sie tanzt“ wird es bei uns nicht geben – und das macht einen nicht unbeträchtlichen Teil von Rock- und Pop-Lyrik aus. Ich würde so weit gehen und sagen, dass es die Kategorien Männer und Frauen bei uns gar nicht gibt.
 
profil: Gibt es Songs, die Sie heute nicht mehr spielen würden?
Von Lowtzow: Ja. Manche haben das Zeug zum Evergreen, andere fallen mit der Zeit weg. Vielleicht haben sie auch nicht das gehalten, was sie zu Anfang versprochen haben. Wenn man fast 30 Jahre lang zusammen Musik macht und 13 Alben veröffentlicht hat, ist das normal. Manche Songs haben im Moment gut funktioniert, waren wie eine Art Statusmeldung. Die waren damals so schnell geschrieben, wie man heute einen Tweet ins Handy tippen würde.
 
profil: Muss man ein wenig verrückt sein, um als Band so lange durchzuhalten?
Von Lowtzow: Das sind Silberhochzeitsreden. Liebe kann ja sehr schnell in Hass umschlagen. Ein wenig Wahnsinn schadet wahrscheinlich nicht, aber man muss seinen Kollegen vor allem mit Loyalität begegnen – um nicht das spießige Wort „Treue“ zu verwenden. Wenn man lange in einer Band spielt, muss man sein Ego ein gutes Stück weit über Bord werfen. Ein neues Album ist immer ein wenig wie in den Krieg zu ziehen, auch wenn das Ergebnis dann „Nie wieder Krieg“ heißt.
 
profil: Sie sind letztes Jahr 50 geworden. Machen Sie sich Gedanken, was von Tocotronic bleiben soll oder wird?
Von Lowtzow: Junge Menschen erzählen mir, dass sie uns vor allem durch die Aufkleber auf den Kühlschränken ihrer Eltern kennen. Das finde ich schön. Die Frage ist ja, ob die gigantischen digitalen Archive unserer Zeit nicht eher das Vergessen fördern. Es gibt Menschen, die Steine sammeln, und solche, die Steine wegschmeißen. Ich bin definitiv ein Wegschmeißer.

 

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Philip Dulle

Philip Dulle

1983 in Kärnten geboren. Studium der Politikwissenschaft in Wien. Seit 2009 Redakteur bei profil. Hat ein Herz für Podcasts, Popkultur und Basketball.